Wenn Genie und Wahnsinn zusammenkommen ...
... und Wahnsinn gewinnt. Eine Kolumne von Emilio Galli Zugaro.
Unser Termin wurde schon zwei Mal verschoben, das war noch nie passiert. Ob es daran liegt, dass wir die 360-Grad-Beurteilung zu Dr. Jürgen Martin durchgehen müssen, die Denkwürdiges enthält?
Der Aufsichtsrat hat dieses Rundum-Feedback zum CEO durch Vorstandskollegen, Mitarbeitende, Aufsichtsräte, Großkunden und Betriebsrat in Auftrag gegeben, bevor man über dessen letzte Vertragsverlängerung beraten will. Ich durfte diese Befragung durchführen.
Die Gespräche waren erhellend und – zugegeben – überraschend. Als Coach meint man, man würde seine Klienten kennen …
Offensichtlich treibt Martin seine Manager regelmäßig in den Wahnsinn, am liebsten am Wochenende. Ein Vorstand erzählte, der CEO habe ihm knapp 500 Whatsapp-Nachrichten zwischen Freitagabend und Sonntagnacht geschickt. Meine zweifelnd gehobene Augenbraue führte ihn dazu, das Smartphone zu zücken und mir den Chatverlauf zu zeigen. Ich traute meinen Augen nicht. Unzählige Nachfragen zu allen möglichen Details, Unmengen von „Das glaube ich nicht!“ oder „Das will ich sehen, schick mir sofort die Zahlen dazu“ in einem fort.
Es hilft nichts, ich muss alles ansprechen. Martin wird – so habe ich ihn nie erlebt – ungehalten, zwischen hektisch und aufbrausend, ja wütend, auch auf mich. „Wer sagt das?“, fragt er mich andauernd. Ich weise darauf hin, dass die Gespräche vertraulich sind.
„Wer bezahlt Sie eigentlich?“, fragt er. „Ihr Arbeitgeber“, antworte ich und denke mir, ohne es auszusprechen: „Nicht Sie. Und auch wenn Sie es täten, würde ich trotzdem die Vertraulichkeit nicht brechen.“
Ich versuche, etwas Empathie für die Befragten zu erzeugen, und frage ihn, wie er sich fühlen würde, wenn ich anderen aus unseren Gesprächen berichten würde. Falscher Versuch: „Das ist ja was völlig anderes!“
Pathologische ZügeDie Befragung bringt an den Tag, was ich nicht wahrgenommen hatte. Und das werfe ich mir vor. Martin regiert durch den Terror unzähliger Nachfragen, Vorwürfe und konstanter Erniedrigung. Das hat pathologische Züge. Einsehen will er das aber nicht. Und er ahnt, dass das sicher nicht das ist, was der Aufsichtsrat hören sollte.
Er pendelt zwischen dem Versuch, mich auf seine Seite zu ziehen oder mir zu drohen. Ich sage vorsichtig, dass die Hälfte aller, die kündigen, es wegen des Chefs täten, und dass er bestimmt nicht seine Leistungsträger verlieren wolle.
„Leistungsträger …“, schnauft er verächtlich, „auf die kann ich gerne verzichten. Meinen Sie, ich würde diese Kontrolle mögen? Ich muss hier alles machen und checken, dass die keinen Mist bauen! Ich halte ja letztlich den Kopf hin für den ganzen Laden!“
Und er möchte das gerne auch noch eine Vertragsperiode lang weiter tun, denke ich mir.
Ich weiß: Sobald ich diese Aufgabe erledigt habe, werde ich mein Mandat niederlegen. Wenn man selber geht, hat das keine negativen, oft sogar positive Auswirkungen auf das eigene Wohlsein. Wenn man rausgeworfen wird, braucht man zwischen sechs und zwölf Monaten, um wieder in der Balance des Selbstwertgefühls zu sein.
Adieu, Dr. Martin, unser Coaching-Zyklus geht zu Ende.
Diese Kolumne erschien zuerst im PR Report 6/2023.
Autor: In den Top-Etagen der Wirtschaft ist der Anteil an toxischen Verhaltensweisen höher als in der Gesamtbevölkerung, wie man in der Coaching-Pflichtlektüre „Menschenschinder oder Manager“ von Babiak und Hare nachlesen kann. Zum Glück ist der Prozentsatz immer noch klein. Emilio Galli Zugaro hat in den vergangenen acht Jahren nur zwei solcher Typen gecoacht. Aber das hat gereicht, um diese Kolumne zu inspirieren, die natürlich von A bis Z erfunden ist, aber nicht realitätsfern …