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News / Das sinkende Schiff
Emilio Galli Zugaro (Foto: Oliver Soulas)
24.12.2022   Kolumne
Das sinkende Schiff
Weil einer geht, muss ein anderer bleiben. Eine Kolumne von Emilio Galli Zugaro.
Heute möchte Dr. Jürgen Martin über einen Verlust reden und wie er kommunikativ damit umgehen soll. Gestern hat ihm sein Vorstandskollege Dr. Gottlieb Wolf eröffnet, dass er seinen bis Mitte nächsten Jahres laufenden Vertrag nicht verlängern will. Er möchte eine Pause einlegen und sich dann ganz neuen Dingen widmen: Start-ups unterstützen, ein Buch über innovative, sinnstiftende Geschäftsmodelle schreiben ... er ist offen für Neues, von dem er noch nicht genau weiß, was es ist.
 
Erschwerend kommt hinzu – da druckst ­Martin etwas –, dass mit dem Kollegen etwas anderes vereinbart gewesen sei. Martin selbst gedenkt nämlich auch, Schluss zu machen – und hatte mit Wolf besprochen, dass dieser nächstes Jahr in seine Fußstapfen als CEO treten solle. Und jetzt das: Wolf geht, Martin muss erst mal bleiben und sich um eine neue Nachfolge bemühen. Er seufzt: Aber wo? Man sehe so viel Mittelmaß!
 
Wenn man ehrlich wäre, müsse man deutlich sagen: Diese Firma zu leiten, sei alles andere als ein attraktiver Job. Man schinde sich 18 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Klar, für gutes Geld. Aber man bewege nur wirklich wenig vom Fleck. Jeden Tag liege ein neuer Stein auf dem Weg. Die Kosten müssten runter, wachsen müsse man natürlich parallel auch. Und das in einem Umfeld, das sich täglich ändere.
 
Martin, der CEO, ist ausgepowert. Und Wolf, der erkorene Nachfolger, hat anderes (vielleicht Besseres?) vor, als Vorstandsvorsitzender eines Dax-Konzerns zu sein. Was sage man nun dem Aufsichtsrat? Was der Belegschaft? Was der Börse und den Medien?
 
Sein Kommunikationsteam hat vorgeschlagen, zu sagen, dass Wolf seine Lebensplanung ändere und das Unternehmen verlasse. Punkt. So habe man es doch immer geschrieben in solchen Pressemitteilungen.
 
Aber glaubt die Öffentlichkeit das, fragt ­Martin. Wolf habe 30 Jahre lang treu der Firma gedient. So eine Mitteilung schreie doch danach, dass sie als Rausschmiss oder Enttäuschung über mangelnde Perspektiven oder gar als Ergebnis eines Streits zwischen beiden gelesen werde. Martin wolle Wolf das Leben danach nicht schwer machen. Für das Unternehmen würde es auch nicht sprechen. Damit wäre eine Nachfolgesuche nicht einfacher, sowohl intern als auch extern.
 
Die weiße Flagge
Ich hüstele diskret und erinnere ihn daran, dass es in jeder Firma genug ehrgeizige Leute gibt, die meinen, sie seien perfekt geeignet für einen Top-Job (und die Vergütung). Es würden sich immer welche finden, die ein Aufsichtsrat akzeptieren würde, egal wie viel schlechter sie als ihre Vorgänger sind.
 
Dr. Martin sitzt still da. Er murmelt etwas vom sinkenden Schiff. Dann kommt noch etwas: ein ausgestoßenes „Bin ich dann eine Ratte, nur weil ich raus und das Boot verlassen will?“
 
Ich schaue überfragt. Er kramt seine Sachen zusammen. Und sieht nicht wirklich aus wie eine Reklame für traditionelle Arbeitgeber. „Dann soll doch zum Weggang von Wolf gesagt werden, was die Kommunikatoren vorschlagen. Ist ja nicht unwahr. Er hat seine Lebensplanung geändert“, raunzt er. „Was sollen wir hier ein Fass aufmachen zur Karriereoption Top-Management?“
 
In diesem Bild der Dämmerung über dem Schlachtfeld fehlt nur noch die weiße Flagge.


Diese Kolumne erschien zuerst im PR Report 6/2022.
 
Autor: Als Emilio Galli Zugaro Journalist war, wurde der Dax gegründet. Von den damals 30 Unternehmen sind inzwischen mehr als die Hälfte nicht mehr da, in anderen Firmen aufgegangen oder aus dem Dax verschwunden. Heute coacht er Manager. In den vergangenen zwei Jahren haben sich viele Führungskräfte traditionsreicher Unternehmen entschieden, „umzusteigen“, andere bereiten sich auf den Sprung in eine höhere Etage vor. In der Welt der Start-ups und Scale-ups weht ein anderer Wind. In der Orvieto Academy treffen diese Welten aufeinander. Das ist inspirierend, auch für diese Kolumne. So ist sie zwar von A bis Z erfunden, aber nicht realitätsfern.

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