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Tijen Onaran
13.05.2020   Menschen
"Vielfalt ist Fehlanzeige"
Digital-Expertin Tijen Onaran warnt vor den vielen männlichen Welterklärern und klagt: "Wir leben im Jahr 2020 und müssen immer noch Diskussionen rund um Sichtbarkeit von Frauen führen."

Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder ist jetzt bei LinkedIn, Sie haben unsere Meldung bei Twitter aufgegriffen und Ihr Netzwerk zu einer Diskussion darüber aufgefordert. Was war für Sie der Auslöser dazu, was hat Sie neugierig gemacht?


 


Tijen Onaran: In einer Zeit, in der einige PolitikerInnen ihre Social-Media-Accounts schließen, den Diskurs über Social Media praktisch beenden, fällt es auf, wenn der Diskurs eröffnet wird. Zudem hat mich die Wahl der Plattform überrascht: LinkedIn ist in vielen Köpfen noch die Plattform mit Wirtschaftsfokus. Doch die nähere Beschäftigung zeigt: Im internationalen Kontext gibt es einige PolitikerInnen, die LinkedIn bereits nutzen, zum Beispiel der kanadische Premierminister Justin Trudeau, der Staatspräsident Frankreichs Emmanuel Macron oder auch die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern. In Deutschland haben wir noch großen Nachholbedarf!


Wie offenbar nicht wenige Zeitgenossen scheint Schröder für den Weg in die digitalen Netzwerke erst einen langen Anlauf gebraucht zu haben. Wie erklären Sie sich das?


Das Digitale ist nicht vorhersehbar. Ein pragmatisches Posting heute kann morgen zu einer emotionalen Debatte führen. Die Eigendynamik der digitalen Netzwerke macht vielen Angst – was ich durchaus verstehen kann. Doch die Frage, die ich mir immer stellen muss: Will ich von anderen positioniert werden oder positioniere ich mich selbst? In Zeiten, in denen Politik mehr denn je erklärt, eingeordnet und kommuniziert werden muss, ist eben auch die Positionierung von PolitikerInnen entscheidender denn je. Es reicht heute nicht mehr, den "Brief aus Berlin" an ein und denselben Verteiler zu schicken und damit auch immer ein und die selbe Zielgruppe zu erreichen. Egal ob jung oder alt: Politik findet im digitalen Raum statt, es wird Zeit, dass auch mehr PolitikerInnen das erkennen und aktiv werden!


Heißt die Hinwendung zur Plattformen wie LinkedIn und Co, dass den früheren Erfolgsgaranten "Bild, BamS und Glotze" anscheinend doch nicht mehr so ganz zu trauen sind?


Social Media bietet die Möglichkeit selbst Agendasetter zu sein. Plötzlich bin ich mein eigener Pressesprecher, mein eigener Chefredakteur. Ich kann Neuigkeiten selbst verkünden, bevor es Medien tun. Ich kann Meldungen einordnen und kommentieren. Die digitalen Kanäle sind eine Unabhängigkeitserklärung an traditionelle Medien. Ob VirologIn, PolitikerIn oder UnternehmerIn: Wer eine starke Community vereint, kann auf gute Positionierung setzen. Für eine erfolgreiche Positionierung braucht es allerdings das Zusammenspiel aus eigener Community und Medien.


Wie erklären Sie sich, dass deutsche Spitzenpolitiker - von einigen Ausnahmen abgesehen - in den sozialen Netzwerken noch nicht wirklich nahbar sind?


Um in den sozialen Netzwerken die eigene Position klar und pointiert zu teilen, muss ich eines verstehen: welchen Spielregeln diese Netzwerke folgen. Als SpitzenpolitikerIn muss ich diese Spielregeln verstehen, um sie einordnen zu können. Der Unterschied von Twitter und LinkedIn muss mir bewusst sein, selbst wenn ich ein Team habe, das sich um meine Social-Media-Aktivitäten kümmert. Unwissenheit macht Angst und schafft Vorurteile! So herrscht beispielsweise immer noch die Denkweise, dass die sozialen Netzwerke nur eine Spielerei für Essensbilder, Katzenvideos oder Selbstinszenierung extrovertierter Persönlichkeiten sind. Hinzu kommt, dass viele SpitzenpolitikerInnen denken, dass die sozialen Netzwerke als eine Art verlängerte Werkbank für Pressemitteilungen aus dem Wahlkreis dienen können. Dabei liegt der Charme der Kanäle doch nicht im "das haben wir immer so gemacht", sondern gerade im "das haben wir noch nie so gemacht". Menschen folgen Menschen – ob in Politik oder Unternehmen. Politik ist komplexer und erklärungsbedürftiger denn je. Wenn nicht die Menschen, die Politik gestalten, dies einordnen, wer dann?


Wie sehr überzeugt das bisherige Vorgehen von Gerhard Schröder?


Die Grundlage für die Beantwortung dieser Frage ist noch recht rudimentär. Bisher gibt es ja nur einen Artikel, der sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch verfasst wurde. Auch, dass der erste Beitrag ein Appell, ein Meinungsstück ist, wundert mich nicht. Verwunderlich wäre gewesen, wenn sich auf seinem Kanal ein Selfie wiedergefunden hätte. Aber wer weiß: Vielleicht werden wir alle noch mit Interaktionen, Bildern und LinkedIn Live Sessions überrascht.


Was könnten aus Ihrer Sicht seine Ziele sein?


Tijen Onaran: Einordnung, Positionierung und Relevanz. Wer nicht dabei ist, findet nicht statt. Egal ob Bundeskanzler a.D., MitarbeiterIn eines Unternehmens oder Selbstständige – nur wer Teil der Debatte ist, kann diese auch aktiv gestalten. Der digitale Diskurs ist Teil unserer Zeitgeschichte; und das Ziel von PolitikerInnen sollte doch auch immer sein, Zeitgeschichte aktiv mitzuprägen. LinkedIn scheint für den Altkanzler das perfekte Medium zu sein, denn er ist durchaus wirtschaftsaffin und erreicht seine Zielgruppe. Würde er zur Wahl antreten, wären Facebook und Instagram eine Alternative.


Nicht erst in der Corona-Krise, aber aktuell besonders akut mehrt sich berechtigte Kritik, dass viele öffentliche digitale Diskussion stark von Männerstimmen geprägt zu sein scheinen. Wie sehr deckt sich diese Einschätzung mit Ihrer Wahrnehmung?


Männer erklären uns derzeit die Welt. Ob in Podcasts, im Fernsehen oder in den sozialen Medien – Vielfalt ist Fehlanzeige. Dabei ist es doch gerade jetzt entscheidend, dass die Diskussion aus unterschiedlichsten Perspektiven geführt wird. Geschlechtervielfalt bringt Meinungsvielfalt! Digitale Teilhabe fängt eben auch bei digitaler Diskussionskultur an. Der Expertenkreis zur Lockerung der schrittweise Öffnung des Lockdowns der Leopoldina, der nationalen Akademie der Wissenschaften, besteht aus 26 WissenschaftlerInnen, darunter genau zwei Frauen. Wir leben im Jahr 2020 und müssen immer noch Diskussionen rund um Sichtbarkeit von Frauen führen? Das kann doch nicht sein! Es ist uns aller Aufgabe, dass dieses Ungleichgewicht immer und immer thematisiert wird und das nicht nur von Frauen selbst.


Sie sind Spezialistin im Vernetzen und im Organisieren von Relevanz: Wie muss man aktuell gegen vermeintliche oder echte Meinungsmonopole gegensteuern?


Flüsterpost hat im Netz absolute Hochkonjunktur. Ich lese etwas bei einer Freundin, einem Freund und nehme diese Information als bare Münze. Dass die eigenen Lebensumstände und Erfahrungen allerdings dazu führen können, dass ich mir im Netz meine eigene Realität schaffe, vergessen viele. Zahlen, Daten, Fakten gepaart mit Glaubwürdigkeit ist für mich der Schlüssel zur Aufklärung und Einordnung. Es braucht mehr Menschen die den Diskurs pragmatisch führen! Wenn ich ständig schreie, habe ich irgendwann keine Stimme mehr.


Viele sprechen von einem neuen Rückenwind, den die zwischenzeitlich längst verloren geglaubte Netz-Euphorie durch die Corona-Krise wiedergewonnen hat. Welchen Spirit sollte man Ihrer Meinung nach unbedingt auch in die nächsten Monate herüberretten?


Mein Wunsch ist, dass wir in Zukunft nicht mehr darüber reden, ob wir die sozialen Netzwerke nutzen sollten, sondern wie. Das Digitale sollte selbstverständliche DNA unserer Debattenkultur sein! Wie wir hoffentlich alle mittlerweile gelernt haben, geht „dieses Internet“ nicht mehr weg. Es ist an uns es mitzugestalten und eine Kultur des offenen Diskurses und Perspektivenvielfalt zu schaffen. Nur so können wir Tendenzen begegnen, die demokratische Werte in Frage stellen!


Autor: Rupert Sommer. Das Interview erschien zuerst bei unserem Schwestermedium kress.de.




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