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News / Raus aus dem Datengrab, rein ins Leben
Jan Schoenmakers
30.10.2014   News
Raus aus dem Datengrab, rein ins Leben
 
Dialog im Social Web ist wie Sozialismus: die Theorie strahlt paradiesisch, die Realität ist meist grau. Die Generationen X und Y sind kommunikationswillig wie nie, doch konzentrieren sich auf jene, die für sie sozial wichtig sind. Marken und Unternehmen zählen meist nicht dazu. Gute PR vermag jedoch die Tür zu öffnen - indem sie relevanten Usern Content liefert, mit dem sie sich in ihren Netzwerken profilieren können. Doch dafür muss sich ändern, wie wir Kommunikation im Netz messen und planen.

Auch wenn manche Content-Strategie darin verharrt, die Themen und Sichtweisen des Unternehmens in Stories zu gießen und formatgerecht aufzubereiten, ist es keine neue Erkenntnis, dass Content primär für den User nützlich sein soll. Die entscheidende Frage ist jedoch: Was heißt "nützlich"?

Funktionaler Content zielt heute meist auf Information und praktische Problemlösung ab, misst den Nutzen am Einzelnen, der mit seiner Hilfe z.B. einen Zusammenhang besser versteht oder die günstigste Tankstelle findet. Gut gemacht, wird solcher Mehrwert zweifelsohne geschätzt - doch er ist nicht per se "social": Der User hat keinen unmittelbaren Anreiz, ihn zu teilen oder zu diskutieren, und er fühlt sich nicht spezifisch angesprochen, weil sich derlei Inhalte prinzipiell an Jeden richten.

Wollen wir im Social Web punkten, müssen wir den sozialen Nutzen für den spezifischen User in den Mittelpunkt stellen. Unsere Content-Strategie muss darauf abzielen, ihm den Ball vor die Füße zu legen, mit dem er in seinem eigenen Umfeld Tore schießen kann, indem er sich als interessant, lustig, innovativ, hilfreich etc. positioniert.

Dafür müssen wir aufhören, Content primär aus der Unternehmensperspektive zu setzen ("unsere Themen für dieses Quartal", "Welches know-how können wir teilen") und zuhören, welche Themen und Formate unseren Usern in ihren Peer Groups beim sozialen Aufstieg helfen - und dann dort anzusetzen, wo wir diesen Bedarf bedienen können.

Wo bleiben die Inhalte?

Das klingt nach Gemeinplatz - doch wissen Sie, worüber Ihre User sprechen, wenn sie nicht auf Ihrer Page sind? Um ernsthaft ins Gespräch kommen, müssen wir die Gespräche unserer User verstehen. Doch dafür fehlen bisher Augen, Ohren...und Routine:

Die Metriken, mit denen Contentstrategien und Social Media Aktivitäten gesteuert werden, bauen auf die Reaktionen von Usern auf Unternehmens-Content auf - und bleiben häufig bei quantitativen Betrachtungen wie der Like/Share-Activation oder der Zahl der Interaktionen stehen. Spezifische User-Experience-Studien fragen die individuellen Themeninteressen ab, nicht aber den sozialen Kontext (zu fragen wäre etwa "Welche Themen sind für Deine Freunde wichtig?" / "Worüber unterhältst Du Dich viel?"). Und Marktforschungsstudien zu Nutzungsmotivation und Userverhalten - inklusive derjenigen, die von Facebook und Co selbst veröffentlicht werden - fassen die individuellen Daten zu Durchschnittswerten entlang klassischer Alters- und Einkommenssegmente zusammen.

Wo Meinung nicht mehr massenmedial, sondern in Peer Groups gebildet wird, kann es nicht verwundern, wenn solche "Insights" wenig nutzbringend im Abstrakten verharren. Wir wollen einen Dialog führen - wissen aber nicht, worüber unsere Nutzer sprechen möchten.

Wir messen uns blind

Ich kenne nicht eine kommerzielle Feldstudie im deutschsprachigen Raum, die - abseits von Oberflächlichkeiten wie Hashtags - Themensetzung, Stil und soziale Dynamik von User Generated Content untersucht hat. Einen Überblick hat hier höchstens der BND - und ich bezweifle, dass er davon profitiert, denn das massenhafte, undifferenzierte Datensaugen der Geheimdienste dürfte sie kaum weiterbringen. Das zeigt die Studie des Big Data Apostels Stephen Wolfram, der tausende anglophone Facebook-Nutzer überzeugt hat, ihre Posts anonym auswerten zu dürfen.

Das Resultat ist, gemessen am Aufwand, ernüchternd: Zwar wissen wir nun, dass die häufigsten Themen "besondere Anlässe", "Lebensphilosophie", "Stimmung", "Familie & Freunde" und "Reisen" sind - und dass Produkte, Forschung, Gesellschaft, Karriere und andere Corporate Themen auf den hintersten Rängen landen.

Doch sagt uns die reine Häufigkeit nichts darüber, welche Themen Resonanz ausgelöst haben und welche Aspekte und Sichtweisen dabei ausschlaggebend waren. Obendrein sind Summen und Mittelwerte von tausenden Usern aus verschiedensten Peer Groups ähnlich hilfreich, um die für uns relevanten Gruppen zu verstehen, wie aus der durchschnittlichen Themensetzung der deutschen Tagespresse auf die Agenda der taz schließen zu wollen.

Ran ans lebende Objekt!

Es geht nicht um Abstraktion, Quantifizierung und statische "Facts", sondern ums Spezifische, ums Qualitative, um Dynamik. Jede Peer Group entwickelt ihre eigenen Agendas und Codes, die für das Statusmanagement ihrer Mitglieder entscheidend sind - es drohen grobe Peinlichkeiten, wenn man da aus den vermeintlichen Gepflogenheiten einer ganzen Altersgruppe Sprachstil und Ästhetik für die konkrete Ansprache ableitet.

Wollen wir Teil der Konversation werden, müssen wir den mühsamen Weg wählen und am lebenden Objekt forschen: im Dialog mit unseren Nutzern ein Gefühl entwickeln, welche Peer Groups die Meinungsbildung bestimmen, welche Themen dort besprochen werden und welche Äußerungen resonanzfähig sind.

Das benötigt menschliches Interesse - beobachten, zuhören, fragen, mitreden. Und diese Erkenntnisse zur Basis der Content-Strategie im Social Web (und möglich auch darüber hinaus) zu machen, erfordert Mut: Geht es um Gesprächsinhalte, Stimmungen und Resonanz, ist die Intuition oft tragfähiger als die Mathematik - kein Selbstläufer bei Kennzahl-gewöhnten Lenkungskreisen.

Die Bottom-up-Content-Strategie - eine für Alle?

Stellen wir diesen Gedanken in den Mittelpunkt unserer Content-Strategie, ändert sich die Produktionslogik: Zentrales Kriterium wird der soziale Nutzwert des Contents in den relevanten Peer Groups; Framing, Sprache und Format der Inhalte werden strikt auf ihre kommunikative Anschlussfähigkeit in diesem Umfeld ausgerichtet.

Es klingt charmant, damit ein neues Paradigma der Unternehmenskommunikation auszurufen - doch so spränge man zu weit. Sicherlich gibt in der Vorgehensweise enge Berührungspunkte zu Pressearbeit und Public Affairs, sicherlich profitiert jede Stakeholder-Kommunikation vom Fokus auf den Mehrwert für den Nutzer - insbesondere von der Frage, wie wir ihm helfen können, sein eigenes Prestige zu steigern.

Doch so entscheidend der Bottom-Up-Ansatz für eine Influencer-Rolle im Social Web ist - er kann klassische Prozesse der Unternehmenskommunikation nur ergänzen: Die Informationserwartung, die die User Corporate Webseiten, Geschäftsberichten, Pressemitteilungen oder Thesenpapieren entgegenbringen, müssen weiterhin über die gewohnten Reporting- und Agenda-Setting-Routinen bedient werden. Überzogenes Storytelling, zu große Dynamisierung oder Überfütterung mit "soften" Themen würden hier den Nutzwert einschränken. Auch in der Vertriebskommunikation suchen die meisten Nutzer weniger den Dialog als vielmehr klare Informationen und Prozesse, und wollen darüber hinaus nicht weiter behelligt werden.

Nicht jeder muss mitreden

Betrachtet man den Aufwand, zwei komplementäre Redaktions- und Steuerungsroutinen zu unterhalten, und die Mitarbeiterzeit, die nötig ist, um in sozialen Medien zuzuhören, qualitative Daten zu analysieren und einen Dialog mit oft geringen Reichweiten zu führen, müssen sich Unternehmen fragen, was sie sich von der Influencer-Rolle im Social Web versprechen.

Je anschlussbedürftiger man mit seinen Themen und Produkten in den unmittelbaren Lebenswelten der Millennials ist, je mehr die halbprivaten Diskussionen und die soziale Meinungsbildung zu Komplexen wie bewusstem Konsum, Schönheitsidealen, Nachhaltigkeit und Ähnlichem das eigene operative Business betreffen, desto eher lohnt sich die Mühe, zum Content Dealer seiner Zielgruppen zu werden und den Dialog jenseits der öffentlichen Arena zu suchen.

Doch muss beileibe nicht Jeder mitreden. Ist der Business Case für einen solchen Dialog eher schwach, kann man auch im Jahr 2014 ohne das Bonding im Social Web online erfolgreich sein: mit performanten Webseiten, punktgenauer Suchmaschinenoptimierung, Incentives zum Empfehlungsmarketing, kompetentem Service und guter Beziehungspflege mit Gatekeepern.

Wer den Aufwand scheut, den "Social" erfordert, fährt nicht selten besser damit, bewährte Multiplikatoren seine Themen weitertragen zu lassen, als aus Sorge, den Anschluss zu verlieren, mit unpassendem Programm in den sozialen Medien ins Leere zu kommunizieren - oder gar diejenigen zu nerven, die er umgarnen möchte.

Jan Schoenmakers ist in der Konzernkommunikation des Energie- und Telekommunikationsanbieters EWE für Corporate Websites und das Social Media Programm zuständig und vertritt das Unternehmen beim Web Excellence Forum.

Im ersten Teil seines Gastbeitrags hat Jan Schoenmakers erklärt, warum Unternehmen im Social Web an den Millennials vorbeireden – und wie sie sich nützlich machen können.
 

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