Die PR-Löwen sind vergeben. Christof Biggeleben, CCO der Agentur Ressourcenmangel, wirft einen Blick auf die Gewinner beim International Festival of Creativity.
Es ist Freitag. In Cannes. Gestern Abend wurden die PR-Lions vergeben. Dem ging ein intensives Screening der insgesamt 2.087 Einreichungen voraus – unglaublich viele von ihnen sind preisverdächtig. Die Jury der Kategorie "PR" hatte wie jedes Jahr die Qual der Wahl und hat – wie immer – ihre eigenen Gewinner gekürt.
Im Vorfeld der Juryentscheidung habe ich meine persönlichen Favoriten festgelegt. Die Grundlage dafür waren eigene Kriterien, um Arbeiten, die auf den ersten Blick (Ausstellung) und den zweiten Blick (Case-Film) hervorstechen, miteinander vergleichen zu können: Haben die PR-Cases wirklich etwas bewegt und verändert? Gibt es konkrete, belastbare Ergebnisse oder haben die Kampagnen zumindest Wahrnehmungen und Einstellungen verändert?
Die Konzentration liegt also nicht nur auf der Kreation, sondern auch auf dem Ergebnis. Das Spannende an den Cannes Lions: Der Blick geht über den nationalen Tellerrand hinaus. Man sieht und erlebt, wie es andere machen, man lernt und wird inspiriert. Deshalb: Bühne frei für zehn PR-Arbeiten, die herausstechen. Bei acht von ihnen kam die Jury zum gleichen Urteil und zeichnete sie mit einem der begehrten Löwen aus.
"Bordeaux 2050" (Bronze: McCann Paris für AJE)Wie schmeckt der Klimawandel? Überhaupt nicht. Das war das Ergebnis eines aufregenden PR-Experiments. Mit Daten wurde das Klima der Region Bordeaux im Jahr 2050 simuliert. Gleichzeitig mischte man Trauben aus Regionen zusammen, die heute unter ähnlichen Bedingungen wachsen. Das Ergebnis: ernüchternd. Und für die Weintrinker-Nation Frankreich ein Schock, über den medial breit berichtet wurde. Mit perfektem Agenda-Setting und einer einfachen und relevanten Idee wurde den Franzosen der Klimawandel sehr nachdrücklich vor Augen geführt.
"Miss Peru Measurements" (Shortlist: Latina Media Lima für Latina)Es kam anderes als "Mann" das jahrzehntelang gewohnt war: Bei der "Miss Peru"-Wahl sprachen die Kandidatinnen nicht über ihre Traummaße, sondern über nackte Zahlen, die die Gewalt gegen Frauen in dem südamerikanischen Land verdeutlichen. Mit diesem PR-Stunt auf offener Bühne wurde in Peru eine breite Debatte losgetreten, die dazu führte, dass 62 Prozent mehr Fälle von sexueller oder häuslicher Gewalt angezeigt worden sind. Mehr noch: Das Strafgesetzbuch wurde verschärft, alle Formen von Gewalt gegen Frauen werden in Peru heute mit einer Gefängnisstrafe geahndet.
"Pay with views" (Gold: JWT Amsterdam für Opel)Eine grandiose virale Idee, die für viel Medien-Buzz sorgte: Mit Youtube-Views konnten Nutzer ihren neuen Opel bezahlen. Also wurden von den Opel-Fans sehr, sehr viele Filme von Testfahrten produziert, um ein Exemplar der Sonderedition des Modells "Karl Rocks" zu bekommen. Der Erfolg dieser Kampagne gab Opel recht. Ein Film hatte zwar nur sechs Views, der Sieger allerdings 21 Millionen, während der errechnete Gegenwert eines Wagens bei rund 600.000 Views lag. Dazu: 72 Prozent mehr Besucher auf der Webseite und 29 Prozent mehr Bestellungen für die "Karl-Rocks"-Edition.
"Prescribed to Death" (Bronze: Ketchum New York für den National Safety Coucil)Was für Bilder! 22.000, um genau zu sein. Bilder von Menschen, die in den USA Opfer der Opioidkrise geworden sind. Deren Gesichter wurden mit einer Mini-Fräse aus einer Schmerzmitteltablette herausgefräst. Und dann wurden diese 22.000 Gesichter zu einem Denkmal, um den unschuldigen Opfern, die oft nicht wussten, was ihnen verschrieben wurde, das eine gemeinsame Gesicht zu geben. Diese eindrückliche Arbeit kann man gar nicht näher beschreiben, man muss sie einfach gesehen haben.
"Save our Species" (Silber: BETC Paris für Lacoste)Eine Weltmarke zeigt Haltung, besetzt ein Thema und wird dafür mit einem großen PR-Erfolg belohnt: Lacoste ersetzte sein berühmtes Krokodil-Logo durch zehn Tiere, die akut vom Aussterben bedroht sind. In Summe gibt es von diesen zehn Arten nur noch 1.775 Exemplare – genau die Anzahl an Poloshirts, die von Lacoste für diesen Zweck hergestellt worden sind. Vorgestellt wurden die Shirts taktisch geschickt während der Eröffnung der "Paris Fashion Week", was die Aktion zum Thema vieler medialer Berichterstattungen machte. Es war definitiv eine kleine Änderung mit großer Wirkung: Denn durch die Aktion stiegen auch die Spendeneinnahmen für den Lacoste-Partner "International Union for Conversation of Nature".
"The Value of Nature" (Deloitte Digital Melbourne für The Great Barrier Reef-Foundation)Gut, wenn Kreative rechnen können. Oder rechnen lassen. In diesem Fall haben Experten errechnet, wie ökonomisch wertvoll das Great Barrier Reef für Australien ist. Durch die folgende Agenda-Setting-Kampagne wurde den Menschen im Land schlagartig klar, dass es viel, viel wertvoller ist als die Kohlemine, die in der Nähe des Riffes errichtet werden sollte und es weiter zerstört hätte. Das Bauvorhaben wurde nach der Kampagne gestoppt. Was diese Arbeit besonders interessant macht: Erst als ökonomisch und nicht mehr emotional argumentiert wurde, stellte sich der Erfolg ein.
"To The Last Tree Standing" (Silber: Ogilvy Warschau für Greenpeace)Spielend ein UNESCO-Biosphärenreservat vor der Abholzung gerettet hat die Gaming-Community den Bialowieza-Nationalpark in Polen. Für die Kampagne wurde der Urwald in Virtual Reality nachgebaut und in ein Minecraft-Spiel übersetzt. Die Gamer konnten den Nationalpark virtuell entdecken, bis er während eines Live-Twists virtuell bis auf einen Baum abgeholzt wurde. Dieser starke visuelle Eindruck führte zu einem Aufschrei einer jungen, eher unpolitischen Zielgruppe in Polen, der am Ende dazu führte, dass der zuständige Minister zurücktreten musste und die Abholzung des Urwaldes von der Regierung gestoppt wurde.
"Trash Isles" (Grand Prix: AMV BBDO London für Plastic Oceans/Ladbible)Im Nordpazifik befindet sich eine Insel aus Plastik, die so groß ist wie Frankreich. Da sich offenbar keine Regierung dafür interessiert, stellten die "Trash Isles" einen Antrag bei der UN, offiziell als Mitglied aufgenommen zu werden. Weil man alles hat, was ein Land ausmacht: Flagge, Währung, Pässe. Die Bevölkerung wurde online gesucht, jeder konnte Bürger der Inseln werden. Das Ergebnis: eine weltweite Berichterstattung. Sicher, dieser PR-Stunt wird das Thema Plastikmüll allein nicht lösen. Aber ohne Bilder davon und Geschichten darüber wird das Thema aus dem öffentlichen Fokus schwinden.
"Whopper Neutrality" (Bronze: David Miami für Burger King)Hackvertising. Bei dieser Disziplin hat es die US-Agentur David zu einer gewissen Meisterschaft gebracht: Die Kreativen suchen sich für den Kunden Burger King gesellschaftlich relevante Themen und hacken sich mit Kampagnen in die Debatten hinein. In diesem Fall in die politischen Diskussionen zur Netzneutralität in den USA. Der Dreh: Wenn man am Burger-King-Tresen mehr bezahlt, wird der "Whopper" schneller zubereitet. Damit wurde das Thema für die Kunden greifbar: Die Aktion von Burger King schaffte es in alle Medien, es gab 2,3 Millionen Unterschriften bei Change.org und Politiker griffen die Kampagne in Parlamentssitzungen auf.
"World’s Most Successful Recruitment Video" (Bronze: Ogilvy Auckland für NZ Police)Nein, die Polizistinnen und Polizisten haben weder gesungen noch gerappt, im Gegenteil: Sie haben sich die wahrscheinlich längste Employer-Branding-Verfolgungsjagd der Welt geliefert, um zu zeigen, dass die Polizei in Neuseeland weniger weiß und weniger männlich werden soll. Das Video wurde zum Renner und die potenziellen Kandidaten rannten der Polizei die Türen ein. Das Ergebnis: 615 Prozent (!) mehr Bewerbungen von Frauen bzw. von Menschen, die eine andere ethnische Herkunft haben als die europäische.
Die Arbeiten zeigen, dass "For the good" auch in diesem Jahr im Mittelpunkt vieler Einreichungen stand, sei es für NGOs oder für CSR-Aktivitäten großer Unternehmen. Gleichzeitig fehlt dem Jahrgang 2018 die große Abräumer-Kampagne wie es etwa das "Fearless Girl" zuvor war. Dafür tauchten in diesem Jahr erstmals mehrere Arbeiten mit Employer-Branding-Bezug auf der Shortlist auf, oftmals eng mit dem Thema "Diversity" verbunden, das für viele Institutionen und Unternehmen wichtiger und wichtiger wird. Bei beiden Themen trauen Unternehmen sich kreativ mehr zu als in den klassischen Corporate Communications.
Aber was ist aus PR-Sicht das Fazit für Cannes 2018? Hörte man sich um, fielen oft solche Sätze: "Ein Jahr zum Durchatmen", "Schauen, wohin es wirklich geht". Zumal ein Thema wie AI viele Vorträge dominierte, man am Ende aber wenig Konkretes sah – weder von Agenturen noch von den großen Beratungen, die in Cannes sehr prominent vertreten waren.
Eine persönliche EinschätzungCannes 2018: Das war – ein merkwürdiges Missverhältnis. Während im Palais fleißig die Welt gerettet wurde, scheint sie außerhalb aus den Fugen zu geraten. Deshalb verhallte der aus meiner Sicht wichtigste Satz des Festivals fast ungehört: "Wir befinden uns in einem Kampf um die Wahrheit", sagte Richard Edelman. Aber der Kongress reagierte nicht, sondern tanzte weiter an den Stränden von Cannes. Auch deshalb bleibt ein persönlicher Wunsch: Die Lions 2019 sollten politischer werden. Bringt den Löwen das Brüllen bei.