Die Netzkonferenz re:publica war in diesem Jahr größer, professioneller und internationaler denn je - wieder einmal. Was sich im Vergleich zu den Vorjahren aber verändert hat, ist der Tonfall der Vorträge und Gespräche. Der sprichwörtliche Elefant im Raum, die Realität der Totalüberwachung des Internets durch Geheimdienste, war immer präsent. Sei es explizit in Keynotes wie jener des Journalisten und Verschlüsselungsaktivisten Jacob Appelbaum, der eine Analogie zog zwischen Safer Sex und "Safer Surfing" und als Konsequenz Kryptographie für alle forderte. Oder auch implizit, etwa wenn die britische Mathematikerin Hannah Fry nach ihrem faszinierenden Vortrag zum Vorhersagepotenzial von Verhaltensmusteranalysen am Beispiel der London Riots im Jahr 2011 mit Fragen nach dem Missbrauchspotenzial solcher Algorithmen konfrontiert wurde.
Sascha Lobo gab als Netzerklärer der Nation seine Wut über den mangelnden Widerstandswillen der Netzgemeinde medienwirksam zu Protokoll. Und ein IT-Sicherheitsunternehmen holte sich mindestens ebenso aufmerksamkeitsstarke Schützenhilfe von David Hasselhoff, um ein "Manifest" für Sicherheit und Freiheit im Netz anzukündigen. Die re:publica profitierte vom Promi-Auftritt, weil er die Konferenz auch in die Boulevard-Presse hob. Für eine Veranstaltung, die für sich in Anspruch nimmt, die ganze Gesellschaft abbilden zu wollen, kein schlechter Nebeneffekt. Das Publikum im Saal fand den Hasselhoff-Auftritt aber eher nur mittelgut, mancher witterte gar den Ausverkauf der re:publica an den Kommerz.
Kampfbegriffe und Bilder gegen den ÜberwachungswahnWenn man aus der diesjährigen re:publica eine gesellschaftspolitische Leitfrage ableiten möchte, mit der sich PR-Profis auseinander setzen müssen, ist es die nach dem Umgang mit dem technologischen Fortschritt in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Leitmotiv der Debatten lautete: Die Technik ist dem rechtlichen Rahmen stets voraus, das Machbare wird gemacht und die gesetzlichen wie ethischen Grenzen werden mehr als überstrapaziert.
Die Ohnmacht des Individuums gegenüber der Allmacht der politisch sanktionierten Überwacher ein Jahr nach Edward Snowden war auf der re:publica mit Händen zu greifen. Und dennoch richteten mehrere Referenten ihren Blick nach vorn. Sascha Lobo rief zur ernsthaften und langfristigen Lobby-Arbeit für die Interessen der Netzgemeinde auf und forderte neue Kampfbegriffe gegen die "Überwachungssüchtigen" und "Fanatiker" bei den Geheimdiensten genauso wie einen neuen Internetoptimismus. Felix Schwenzel (wirres.net) verglich den Kampf gegen die Allesüberwachung mit dem Kampf gegen die Rassentrennung in den USA in den 1960er Jahren. Der war trotz einer gefühlt nicht betroffenen Mehrheit und sogar gegen Widerstände über die Art des Widerstands in den eigenen Reihen letztlich erfolgreich. Denn er schaffte es, die Mächtigen gewaltfrei zu provozieren und Bilder zu schaffen, die das Problem emotionalisierten. Beides Dinge, die dem Kampf der Netzgemeinde gegen die Überwachung noch abgehen.
Die re:publica ist - trotz namhafter Sponsoren und einiger Aussteller in der zentralen Halle - eine recht wirtschaftsferne Veranstaltung. Doch die Themen und Fragen, die hier diskutiert werden, betreffen alle Wirtschaftsbereiche, nicht nur die unmittelbar digitalen. Wer definiert die Rahmenbedingungen für die digitale Gesellschaft? Wer sorgt für die Einhaltung der Regeln? Und welche Regeln brauchen wir überhaupt?
Und nicht zuletzt: Wem kann man heute noch vertrauen? Der Bundesregierung, der EU-Kommission, dem US-Präsidenten? Für die re:publica-Gänger eine rhetorische Frage. Auch Internetkonzerne, die noch vor Jahresfrist nicht wenige glühende Verteidiger unter den re:publica-Teilnehmern gefunden hätten, müssen sich heute mehr denn je für ihren Umgang mit den persönlichen Daten ihrer Nutzer rechtfertigen. Nicht weniger kritisch wird ihre, meist wohl gesetzlich erzwungene, Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gesehen. Da ist es kaum verwunderlich, dass
der jüngste GPRA-Vertrauensindex die IT-Branche im Abwärtstrend sieht.
Politische Konferenz (fast) ohne PolitikerDie Digitalisierung des täglichen Lebens in allen Gesellschafts- und Wirtschaftsbereichen ist unumkehrbar. Die re:publica hat auf ihre ganz eigene Art gezeigt, wie notwendig und überfällig eine breite gesellschaftliche Debatte über unseren Umgang mit dieser Entwicklung ist. Die re:publica agitiert, wo die Politik beschwichtigt, sie zeigt glühende Leidenschaft, wo in der Wirtschaft nüchterner Pragmatismus vorherrscht - gerade deshalb hat sie eine Ausnahmestellung in Deutschland und Europa.
Die re:publica hat den Teilnehmern aber auch vor Augen geführt, dass es bei der Frage nach den Grenzen von Überwachung keine schnellen Lösungen geben wird. Zu groß ist das Beharrungsvermögen der Mächtigen, zu wenig spürbar und augenfällig ist - bislang - die Bedrohung, die aus der Totalüberwachung des Netzes erwächst. Die re:publica fand in diesem Jahr noch keine Antworten, aber sie gab Impulse, sie forderte Aufmerksamkeit, Mit- und Nachdenken ein und forderte die Mächtigen in Politik und Wirtschaft heraus und die Teilnehmer der Konferenz auf, nach Lösungen zu suchen. Und zwar mit und in aller Öffentlichkeit. Damit das aber gelingt, wird die Konferenz wohl nicht umhin kommen, in den nächsten Jahren auch diejenigen mit auf die Podien zu holen, die sie bislang weitgehend außen vor ließ: die Politiker. Sonst wird die Debatte um ein freies Netz für alle eben keine res publica, eine Sache der breiten Öffentlichkeit werden, sondern weiterhin ein Thema vergleichsweise weniger Wissender und Engagierter.
Tapio Liller ist Gründer und Managing Partner der
Kommunikationsagentur Oseon aus Frankfurt am Main. Er ist seit 2008 regelmäßiger Teilnehmer der re:publica.