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News / Das Verschwinden der Gockel
Sebastian Vesper
24.09.2013   News
Das Verschwinden der Gockel
 
Wie „alpha“ darf ein Kommunikationsmensch sein?

Wolfgang (Name geändert) betritt den Raum. Das Haar weht. Spurenelemente von Grau, dabei aber gesund und fast sexy. Eine adrette Assistentin im Kostümchen tippelt in gebührendem Abstand hinterher. Das wache Mittvierziger-Gesicht des juvenilen Leitwolfs verrät einen kultiviert-hedonistischen Lebensstil. Meeting mit allen, große Bühne. Starke Worte, markige Sprüche. Der Auftritt kraftvoll, empathisch, kreativ, spontan. Mitreißend. Mitunter verletzend. Wo gehobelt wird, fallen schließlich Späne. Aber er selbst ist dabei immer er selbst. Und zutiefst menschlich.

Jeder, der vor 1985 geboren wurde, hat solche Typen aus den Anfangsjahren seiner Karriere lebendig vor Augen: Ex-Chefs, Ex-Mentoren, Ex-Widersacher. Wer zu einem späteren Zeitpunkt gezeugt wurde, kennt diese charismatische Spezies eher vom Hörensagen: jene Alpha-Typen, die man liebte oder hasste (oft beides), die gestaltet haben und polarisiert, laut und mutig, nicht immer alles bis zum Schluss durchdacht, aber immer zu 150 Prozent überzeugt – und überzeugend. In der Medien- und Kommunikationswelt, in deren goldenen Zeiten die Hemden stets einen Knopf tiefer aufgeknöpft waren als im farblosen Rest der Welt, prägte dieser Gockel-Typus die Szene über Dekaden hinweg. Was wechselte, waren nur die historisch „modischen“ Accessiores.


Kürzere E-Mails und dezentere Uhren
Die Gockel sind verschwunden. Beziehungsweise: Sie sind vielleicht noch im Geschäft, aber sie haben sich konsequent entgockelt. E-Mails sind heute kürzer und nüchterner, und sie enthalten längst mehr Substantive als Adjektive und Verben zusammen. Uhren sind auf kulturell kompatible Durchmesser geschrumpft, Anzüge sind grauer und weniger auffällig, Porsche und Pelz sind verpönt, falls sie es nicht schon immer waren. Meetings sind kleiner, knapper und kalkulierbarer. Und ohne die Alphas für alle Beteiligten am Tisch einfach sicherer.

Das Verschwinden der Gockel hat natürlich mit der allgemeinen Business-Etikette und der rationalisierten Verhaltenspraxis in Konzernen und Beratungsfirmen zu tun. Bis auf wenige Ausnahmen im testosteron- und budget-geschwängerten Marketing gilt: Das zeitgemäße Management-Auftreten ist kühl, rational und unspektakulär. Wann immer ein Gockelfossil von seiner geliebten Bühne fällt, wird sein vorläufiges biografisches Ende in einem Zweizeiler kurz vor dem Wochenende versenkt; Verträge und Schweigepflichten regeln den Rest, der Gockel verstummt.

Schlaue, anpassungsfähige Gockelfossilien, die die Zeichen der Zeit verstanden haben, passen sich an. Oder sie klappen sich selbst weg – lautlos und ohne Aufhebens. Rasch schließen sich die Heckwellen hinter ihnen, die See wird ruhig. Die weniger Schlauen wiederum können nicht aus ihrer gelernten Gockelhaut und machen Fässer auf – in der Regel ohne Erfolg. Denn die See ist größer und mächtiger als jede Heckwelle.


Ein Paddelschlag in bleierner See
Die Folge der flächendeckenden Gockelfossil-Ausrottung ist eine zutiefst bleierne See. Wo einst Alpha-Gockel strampelnd und prustend ihre (nicht immer geraden) Bahnen zogen, herrscht jetzt Stille. Ist das gut? Nun ja, jedenfalls ist es der Zeitgeist.

Vielleicht hat sich der Gockel aber auch nur gewandelt, hat sich angepasst. Ein Gockel neuen Typs im gänzlich ungockeligen Gewand ist, zum Beispiel, der zertifizierte Gutmensch: korrekt, auf Ausgleich bedacht, beratend und moderierend. Fahrradhelmfraktion. Im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ etwa gibt es jenen wunderbar gutmenschigen Kolumnisten namens Dr. Dr. Rainer Erlinger. Der beantwortet gewissenhaft „Gewissensfragen“: ethische Probleme des Alltags, die die meisten von uns liebend gern anstelle ihrer momentanen Herausforderungen vor der Flinte hätten.

Der moderne Gutmensch ist nicht weniger „alpha“ als das Gockelfossil, nur auf andere Weise. Irgendwer muss ja schließlich „alpha“ sein. In Zeiten ohne Bug- und Heckwellen reicht dafür auch schon mal ein halber Schlag mit dem Stechpaddel. Leise, korrekt und unauffällig. Und Sekunden später nicht mehr auszumachen.

Sebastian Vesper ist Editorial Director von Haymarket Deutschland. Von 1997 bis 2009 war er Chefredakteur beim PR Report.
 

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