Sprachlos in Berlin
Die Lebensmittelwirtschaft Miserable Kommunikationsleistung, unglückliche Lobbyarbeit – die deutsche Lebensmittelindustrie verharrt in der Defensive. Nun droht auch noch der Versuch zu scheitern, die Branche zu einen und mit einer Stimme sprechen zu lassen. Von Bijan Peymani
Geht es nach den schieren Zahlen, steht kaum eine Branche in Deutschland so gut im Futter wie die Lebensmittelindustrie. Doch dreistellige Milliardenumsätze, internationale Reputation und selbstverliebte Leistungsversprechen täuschen über den inneren Zustand dieses Segments hinweg: Der Industriezweig ist zersplittert, durch gegensätzliche Interessenlagen geprägt und von wiederholten Skandalen gebeutelt. Zu allem Überfluss treiben ihn Verbraucherschützer in schöner Regelmäßigkeit vor sich her und zwingen ihn in Kämpfe, die er nicht gewinnen kann.
Compliance soll genügen
Das Image der gesamten Branche ist, freundlich gesagt, durchwachsen. Zu Jahresbeginn hatte der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) offenbart, dass drei von vier Konsumenten der Lebensmittelindustrie unterstellen, sie tarne, täusche und trickse bei den Angaben auf ihren Produkten – ein Vertrauensverlust, der in den Top-Etagen der Unternehmen die Alarmglocken schlagen lassen sollte. Doch die Zunft verweist autistisch darauf, sie bewege sich im Rahmen der Gesetze. Und einzelne Marken an den Pranger zu stellen, verbitte man sich doch sehr.
Eine Attacke auf das Mitte 2011 gestartete vzbv-Portal Lebensmittelklarheit.de, pikanterweise ins Leben gerufen und finanziert durch das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV). Dass Ressortchefin Ilse Aigner damit einen äußerst abenteuerlichen Spagat wagt, ist der kruden Aufstellung ihres Hauses geschuldet. Die Branche sei für eine „Diskussion über kennzeichnungspolitische Fragestellungen“ offen, sagt Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL).
Aber bitte nicht durch staatlich geförderten Populismus. Und bewusste Täuschung einzelner Anbieter dürfe nicht mit enttäuschten Erwartungen einzelner Verbraucher vermischt werden. In der Sache mag Minhoff Recht haben, doch so gewinnt man keine Sympathien, schon gar kein Vertrauen, ja nicht einmal Verständnis für sein Anliegen. Interessanterweise seien die individuellen Erfahrungen der Konsumenten mit der Ernährungswirtschaft gut, erklärt ein Branchenkenner: „Anders steht es aber um das, was man ,Fernbild‘ der Branche nennt.“
Denn das Verhältnis der Öffentlichkeit zur Lebensmittelindustrie als Ganzes sei zunehmend gespalten, vorurteilsbeladen und von tiefer Skepsis geprägt. Die Diskrepanz zwischen Nah- und Fernbild erzeuge ein „negatives Grundrauschen“, so der Insider, der wie viele andere ehemalige Fachkollegen nur im Schutze der Anonymität Klartext reden mag. In einer medial gesteuerten Wahrnehmungsgesellschaft reicht es eben nicht, nur die eigenen Marketinginteressen zu vermitteln. Die Branche muss sich allen Stakeholdern deutlich besser erklären.
Dazu bedürfe es neben Willen eines Grundverständnisses meinungsbildender Prozesse, einer einheitlichen Strategie und vor allem adäquater Ressourcen, sekundiert ein anderer, der auch lieber anonym bleibt. „Die deutsche Lebensmittelindustrie wirkt bezüglich ihrer Lobbyarbeit nicht besonders glücklich. Tatsächlich ist sie in ihrer Vertretungsarbeit personell und finanziell immer noch nicht richtig aufgestellt, um aktuellen politischen Anforderungen zu genügen.“ Man sei „bis heute nicht im Gestaltungsmodus“ und gerate so wiederholt in die Defensive.
Selbsternannte Verbraucheranwälte
Längst haben andere die Lufthoheit erobert, allen voran kampagnenstarke NGOs wie Thilo Bodes Foodwatch oder Plattformen wie Lebensmittelklarheit.de, die geschickt David-Goliath-Schemata bedienen. Ihnen spielt in die Hände, dass Ernährung ein höchst emotionales Thema ist und sie einen medialen Persilschein besitzen; weder Statements noch Motivation werden in der Regel hinterfragt. So wichtig die Arbeit der selbsternannten Verbraucheranwälte sein mag, aus der permanenten Skandalisierung beziehen sie ihre Legitimation – und ihren Umsatz.
Die professionell aufgestellten Berufskritiker der Lebensmittelwirtschaft finden jedoch auch unverhältnismäßig stark Gehör, weil sie deutlich aktiver kommunizieren und in der Lage sind, selbst komplexe Zusammenhänge zu einfachen Botschaften zu verdichten. Dabei sind viele dieser NGOs und Plattformen bei Lichte betrachtet Scheinriesen. So brüstet sich das BMELV damit, das von ihm initiierte Portal habe in den ersten 18 Monaten rund „10.000 Meldungen und Anfragen“ verbucht, wie BMELV-Sprecher Holger Eichele im Gespräch erklärt.
„Das ist nichts!“ ereifert sich ein Insider. Und in der Tat scheint die Bilanz mager, angesichts eines hierzulande so emotional besetzten, so hysterisch diskutierten Themas wie Ernährung. Coca-Cola etwa muss in nur einem Jahr das Zehnfache an Verbraucheranfragen bearbeiten, und selbst Danone kommt noch auf rund 40.000 Anfragen per annum. Für Eichele bleibt das Projekt dennoch „ein großer Erfolg und ein Gewinn für den Verbraucherschutz.“ Sein Ministerium werde deshalb „die Förderung des Internet-Portals verlängern“.
Verbraucherschützer schweigen
An dieser Stelle wären die Einschätzungen des vzbv als Betreiber von Lebensmittelklarheit.de interessant. Leider blieben die Fragen dieses Magazins unbeantwortet. Dafür eröffnet Eichele kurzum das „friendly fire“ gegen das eigene Lager: Vieles, was Foodwatch da verbreite und Medien „unkritisch und ungeprüft übernehmen“, sei „nichts anderes als heiße Luft“. Aus der Hecke wird zurückgeschossen, auf dem Verbraucherportal unterhielten sich Branchenprofis mit Branchenprofis oder NGOs und Industrie: „Das sind die, die die Klicks ausmachen.“
Und so schießt einer gegen den anderen, der konstruktive Dialog zwischen den Beteiligten wird durch pseudo-demokratische Social-Media-Aktivitäten ersetzt. Das heutige Dilemma der Lebensmittelbranche in Deutschland resultiert aus dem langjährigen Versagen der Verbände“, urteilt ein Beobachter. Das hatte offenbar auch der BLL erkannt und vor fast zwei Jahren im Schulterschluss mit der BVE und fünf weiteren Verbänden die Idee zu einer eigenen Dialog-Plattform geboren. Anfang 2013 ging „Die Lebensmittelwirtschaft“ offiziell an den Start.
Laut BLL-Vormann Minhoff ist dies „unsere Antwort auf die immer weiter um sich greifende, oberflächliche und oft von Unkenntnis geprägte Berichterstattung über unsere Branche“. Man sei sich darüber „bewusst geworden, dass wir die Aufgabe haben, für bessere Informationen und größere Transparenz zu sorgen“. Allerdings betont Minhoff, es handele sich bei dem in Berlin ansässigen, von dem geschmeidigen Stephan Becker-Sonnenschein geführten Verein um keine Lobbyorganisation. Diese sei und bleibe der BLL als Spitzenverband der Branche.
Auch Becker-Sonnenschein erklärt, er betreibe „keinen Lobbyismus im klassischen Sinn“ (siehe Interview). Seine Aufgabe sei es, „in der Debatte über Lebensmittel zu offenen Gesprächen auf Augenhöhe zu gelangen“. Man kann es drehen und wenden, wie man mag: „Die Lebensmittelwirtschaft“ ist der Versuch – und das Herzstück – einer künftig hierzulande besser strukturierten Lobbyarbeit der Branche. Wer das verneint, degradiert den Verein zur BLL-Außenstelle – was zwangsläufig die Frage nach der Daseinsberechtigung aufwirft.
Diese stellt sich nach eineinhalb Jahren Vorbereitungszeit, wiederholter Ankündigungs-PR und beinahe drei Monaten des Schweigens seit dem Start aber auch so. Vom ehemals von der Agentur Molthan van Loon in Hamburg entworfenen, allseits gelobten Konzept jedenfalls ist nichts mehr zu sehen. Demnach, hört man, sollte „Die Lebensmittelwirtschaft“ unabhängig zur Branche positioniert werden und bei ihrer Agenda auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Reihen nicht scheuen. Nun sind Positionierung und Personal auf Linie getrimmt.
Molthan van Loon, inzwischen selbst in veränderter Aufstellung, hatte das Mandat nach eigenen Angaben bereits Ende 2012 niedergelegt. Halb zog es sie, halb fielen sie hin: Wer Kerstin Molthan kennt, lobt ihren brillanten strategischen Verstand und vermisst zugleich den sicheren Gang eines Dietrich Schulze van Loon auf (verbands-)politischem Parkett. Letztlich dürften beide Seiten – Agentur und Auftraggeber – über die Trennung nicht allzu unglücklich gewesen sein, zumal angesichts eines Mini-Etats von einer Million Euro pro Jahr.
Leere Worthülsen
Zwar hat der Verein inzwischen eine bescheidene Website (www.lebensmittelwirtschaft.org), und Geschäftsführer Becker-Sonnenschein gibt sich rührig. Anfang März war er im „Spiegel“, Ende des Monats soll ein Beitrag im „Manager Magazin“ folgen. Doch bei allen Auftritten im Namen der Lebensmittelwirtschaft verschießt der 56-jährige Münchener bisher vor allem leere Worthülsen. Von dem mehrfach auch von ihm selbst angekündigten Agenda-Setting oder gar konkreten Inhalten fehlt jede Spur. Und das nach einem Skandalfrühjahr für die Zunft.
Becker-Sonnenschein selbst bittet auf Nachfrage um Geduld. Der Verein stecke „noch zu sehr in der Aufbauarbeit. Momentan sind die Positionen und Inhalte noch nicht ausgearbeitet“. Wie viel mehr Zeit brauchen er und die Verbände, sind zwei Jahre nicht genug? „Die kommen einfach nicht aus dem Quark“, lästert einer. Intellektuell hätten alle verstanden, dass man schnell agieren müsse, aber sie könnten sich einfach nicht einigen. „Wo sind die, was machen die?“ legt der mit der Gründung vertraute Insider nach, „das gibt draußen kein gutes Bild ab.“
Kritik nimmt zu
Und so wächst der Unmut über den langjährigen PR-Profi. Die einen kritisieren dessen „Ego-Show, der krampfhaft versucht, seine allerletzte Berufschance zu nutzen“. Andere irritiert, dass Becker-Sonnenschein kein Lobbyist sein will („der positioniert sich doch überall als Cheflobbyist der Lebensmittelwirtschaft!“). Und wieder andere werfen ihm Feigheit vor dem Feind vor. „Gerade in einer Situation wie derzeit, mit einem Skandal nach dem anderen, muss Becker-Sonnenschein in die Talkshows!“, fordert einer – auch wenn er dort verprügelt würde.
Aber das muss der Mann in seiner Funktion aushalten. Die Frage ist, wie lange die Oberen in den Verbänden ihren Vereinsgeschäftsführer noch aushalten. Dem Vernehmen nach versuchen sie derzeit, Becker-Sonnenschein wieder einzufangen. Er müsse weniger für sich und mehr für die Branche arbeiten, mit einer klaren Agenda und eigenen Standpunkten. Schon unken Kenner der Szene, Becker-Sonnenschein sei ein Statthalter auf Abruf, einer vom Schlage des BLL-Chefs Minhoff der ideale Kandidat, um „Die Lebensmittelwirtschaft“ zu führen.
Die Branche bräuchte dringend einen unabhängigen Geist, der auch mal dort hin geht, wo es weh tut. Der Kampagnenerfahrung hat und selbst in harten Debatten seinen Mann oder seine Frau steht. Und als reine Dialogplattform ist der Verein eine Fehlgeburt. Zielführender wäre ein Thinktank, der Denkanstöße für das Ernährungs- und Gesundheitsbild der Zukunft gibt. Und der sich nicht scheut, unangenehme Wahrheiten auszusprechen – für das eigene Lager ebenso wie für viele Verbraucher mit ihrer romantisch verklärten Haltung zu industriell gefertigten Lebensmitteln. Doch dafür müssten die Branchenlobbyisten eins sein: einig.
Zersplitterter Markt, vielfältige Interessen
Die Lebensmittelindustrie ist die gemäß Umsatz viertgrößte Branche in Deutschland. Nach vorläufigen Schätzungen erlösten die rund 556.000 Mitarbeiter in den knapp 6.000 vor allem kleinen und mittelständisch geprägten Unternehmen im vergangenen Jahr gut 170 Milliarden Euro. Diese Statistik lässt Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten außen vor; sie werden nicht der Ernährungsindustrie, sondern dem Ernährungshandwerk zugerechnet. Entlang der Wertschöpfungskette von der Landwirtschaft über die Industrie und das Handwerk bis zum Handel kommt die Branche hierzulande auf 736.000 Betriebe.
Als wichtigste Branchenorganisationen gelten der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) sowie die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE). Beide haben ihren Sitz in Berlin. Der BLL repräsentiert besonders den Mittelstand und weist eine Expertise beim Thema Lebensmittelsicherheit auf. Dagegen sind in der BVE als wirtschaftspolitischem Spitzenverband auch die großen Unternehmen organisiert. Um die Interessen einer hierzulande sehr zersplitterten Branche zu bündeln und sie mit einer Stimme sprechen zu lassen, haben BLL und BVE zusammen mit fünf weiteren Verbänden den Verein „Die Lebensmittelwirtschaft“ ins Leben gerufen.
„Wir schweigen nicht. Wir arbeiten. Wir bauen ganz neu auf, vom Büro bis zum Personal“
Stephan Becker-Sonnenschein ist Geschäftsführer des Verbands „Die Lebensmittelwirtschaft“ in Berlin
Welche Erwartungen dürfen Branche, Politik und Öffentlichkeit an den neu gegründeten Verein „Die Lebensmittelwirtschaft“ knüpfen?
Wir betreiben keinen Lobbyismus im klassischen Sinn. Wir treten als Dialogplattform an, sind Gesprächs- und Diskussionspartner. Bei uns spricht die Branche mit einer Stimme. Wir beteiligen uns an gesellschaftlichen Debatten, reflektieren Diskussionen und wollen mit Hilfe unserer Experten Impulse für die Branche entwickeln.
Knapp drei Monate nach dem Start ist davon nicht viel zu sehen. Warum gibt sich der Verein seltsam schweigsam und wo bleibt der visionäre Gestaltungswille?
Wir schweigen nicht. Wir arbeiten. Wir bauen ganz neu auf, vom Büro bis zum Personal. Das gilt natürlich auch für die Homepage. Die Inhalte gehen hier nach und nach online, das muss noch wachsen. Ein banaler Grund, aber hoffentlich nachvollziehbar. Abgesehen davon gilt: Natürlich haben wir Statements veröffentlicht. Wichtiger ist aber, dass die Fachverbände die Fachthemen betreuen. Dort ist das Experten- und Detailwissen, dort ist die Manpower. Wir diskutieren die branchenübergreifenden Themen.
Von NGO-Seite erhöht sich der Druck auf Ihre Branche zusehends. Empfinden Sie in der Auseinandersetzung mit diesen Kampagnen-Profis Waffengleichheit?
Es ist hervorragend, dass Lebensmittel in der öffentlichen Debatte zunehmend mehr Aufmerksamkeit finden. Verbrauchern ist dieses Thema offensichtlich immer wichtiger. Das ist eine gute Entwicklung. Und egal ob Lebensmittelbranche oder NGO: Ich finde wichtig, dass trotz aller Meinungsunterschiede noch ein Gespräch zwischen den Diskussionspartnern möglich ist. Wenn die aber Debatte zu laut oder zu emotionalisiert geführt und der Tonfall sogar beleidigend wird, ist das schwierig.
Interview: Bijan Peymani