Plädoyer für eine unfertige Stadt
Wieder mal: Ein Bericht über die Unzulänglichkeiten von Berlin und seiner Vermarktung. Viele, so erzählt mir der Redakteur, seien unzufrieden mit dem Ruf der Stadt, der Berliner (Landes-) Politik, dem Schuldenstand, der Versorgungsmentalität – und darüber wolle man jetzt auch im PR Report berichten.
Ich gestehe, dass mich die Berichte über einen neu zu bauenden Flughafen, Arbeitslosenzahlen, Schulabbrecherquoten und einen streitbaren „Regierenden“ so sehr nerven wie viele, die vielen Baustellen mir im Straßenverkehr einiges an Langmut abverlangen und auch ich mir regelmäßig eine strahlendere Berliner politische Klasse wünsche. Wenn wir diese Faktoren aber zum Hauptgegenstand unserer Beurteilung machen, wäre das genauso „piefig“, wie es den Berlinern oftmals nachgesagt wird.
Was in der Diskussion über Berlin regelmäßig in Vergessenheit gerät, ist der Charme von Unfertigkeit verbunden mit großen Momenten und großen Erinnerungen. In unserem Streben nach Perfektion, der Suche nach dem einen Profil für diese Stadt, im Vergleich mit anderen Metropolen und deren Vermarktung rückt eines vollkommen in den Hintergrund – dass es eben jene Unfertigkeit ist, die eines der wesentlichen Merkmale für die Anziehungskraft Berlins darstellt. Wenige Momente haben mich aus heutiger Sicht in dieser Erkenntnis geprägt: das Erleben der „Wendetage“ und die Maueröffnung, der Beschluss des Bundestages zum Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin, die Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch Christo und Jeanne-Claude, die Eröffnung des neuen Reichstagsgebäudes als Sitz des Deutschen Bundestages, der Umzug von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat nach Berlin, Silvester 2000 am Brandenburger Tor und nicht zuletzt die Fußball-WM 2006.
Allesamt Erinnerungen, die diese Stadt einmalig gemacht haben. Kein Länderfinanzausgleich kann den (Sympathie- und Reputations-) Effekt abbilden, den ganz Deutschland daraus gezogen hat. Barack Obama hat in seiner Rede an der Berliner Siegessäule gesagt: „Völker der Welt – schaut auf Berlin, wo eine Mauer fiel, ein Kontinent sich vereinigte und der Lauf der Geschichte bewies, dass keine Herausforderung zu groß ist für eine Welt, die zusammensteht.“
Diese Geschichte, diese Herausforderungen – die gehen weiter. Wenn es eben jene Verbindung eines Ortes großer Erinnerungen und ständiger Unfertigkeit ist, die die Hauptanziehungskraft von Berlin ausmacht, dann wünsche ich mir, dass sie noch lange anhält. Sicher, das ist wie vieles gewöhnungsbedürftig. Aber das schaffen wir schon.
Cornelius Winter, 1974 geboren und aufgewachsen in Berlin-Mitte, arbeitet seit 1999 als Kommunikationsberater in Berlin, aktuell als Managing Director bei Hering Schuppener Consulting