Bürgerinitiative 2.0
Der Unwillen von Anwohnern gegen Infrastruktur-Großprojekte organisiert sich – was auch die boomende Windkraftindustrie spürt. Soziale Netzwerke verschaffen Aktivisten kurze Kommunikations- und Abstimmungswege. Von Peer Brockhöfer
Nordfrieslands höchste Erhebungen im Landschaftsbild waren einst die Kirchtürme. Aber die St.-Laurentius-Kirche des 3.000-Einwohner-Dorfs Langenhorn an der Bundesstraße 5 zwischen Husum und Niebüll hat Konkurrenz bekommen. Wer hier in die Weite blickt, sieht nun auch vier Windkrafträder in den Himmel ragen. Vier weitere sollen dazukommen. Und das hat das Dorf gespalten.
Bei dem Projekt in Langenhorn handelt es sich um einen „Bürgerwindpark“: Bürger können Anteile an den Windkraftanlagen erwerben. Betreiber ist kein Energieunternehmen, sondern die Windpark Langenhorn GmbH, deren Geschäftsführer der ortsansässige Landwirt Melf Melfsen ist. Der stellte sich schon 1992 die ersten Windräder auf den Hof. Für Melfsen ist es neben der Milchviehwirtschaft ein „zweites Standbein“, und eigentlich klingt der Plan ganz gut.
Doch in dem Dorf geht es, hoch her, seit die Planungen 2007 bekannt wurden. Die Bürgerinitiative „Lebenswertes Langenhorn“ gründete sich Anfang 2010, um sich gegen das Vorhaben zu engagieren. Man startete einen Blog, auf dem Informationen gepostet wurden, lud zu Info-Veranstaltungen und verteilte an die Dorfgemeinschaft Broschüren, die anschaulich zeigten, was auf sie zukommen würde. In der Broschüre wurde der Größenvergleich der Windräder mit dem Kölner Dom nicht gescheut. Allerdings musste sich der Sprecher der Initiative „Lebenswertes Langenhorn“, Bernd Korthaus, für Fotomontagen entschuldigen, die ein bisschen übertrieben hatten.
Mitte 2010 wurde das Aufbegehren der Gegner bei einer Gemeinderatsvertreter-Sitzung abgelehnt. Man hatte in einem dreijährigen Kampf alles versucht, der NDR drehte über eineinhalb Jahre eine aufwendige Reportage, Tageszeitungen im Norden und Blogs berichteten regelmäßig.
Change Management auf Landesebene
Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Peter Harry Carstensen (CDU), und sein Koalitionspartner FDP setzen derweil voll auf die Windenergie. Bis 2020 soll der gesamte Strombedarf des Küstenlandes hieraus gedeckt werden. Dazu wurden die für Windkraft genehmigten Flächen in den Nutzungsplänen von bisher 0,8 auf 1,5 Prozent erhöht. Auch Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen wollen ihren Windkraftanteil am Strommix deutlich erhöhen.
Diese Pläne lassen neue und vielfältige Interessen aufeinanderprallen. Hausbesitzer fürchten eine Wertminderung ihrer Immobilien oder ausbleibende Feriengäste. Dass die Windkraftanlagen das Landschaftsbild beeinträchtigen, stört indessen Umweltschützer, die die regenerative Energiequelle eigentlich begrüßen müssten. Sie wehren sich gegen eine „Verspargelung“ der Landschaft. Und so lautet das Motto der Gegner: Windkraft ja, aber nicht in direkter Nachbarschaft. Das ist in einem kleinen, zersiedelten Flächenland wie Schleswig-Holstein eine schwierig umzusetzende Forderung. Andere wiederum sehen darin Zukunftschancen. Landwirte erhalten von Betreibern mittlerweile hohe Pachten, wenn sie ihre Flächen zur Verfügung stellen. Bei Energieunternehmen herrscht Goldgräberstimmung – nicht erst seit dem erneut ausgerufenen Atomausstieg.
In Schleswig-Holstein schauen Kommunalpolitiker nach Kiel und versuchen, irgendwie Ordnung in die Interessenlage zu bringen. Was mitunter nicht leicht ist, wie das Beispiel aus Langenhorn zeigt: Hier gelten 14 der 17 Gemeinderatsmitglieder als befangen, weil sie Anteile an dem Bürgerwindpark gezeichnet haben. Das ist nicht verboten, aber wie sollen so die Meinungen der Bürger berücksichtigt und sie „mitgenommen“ werden, wie man im PR-Sprech erfolgreiche Überzeugungsarbeit umschreibt? Zwar konnte der Windpark in Langenhorn nach vielen Querelen zunächst durchgesetzt werden. Im August wurden die ersten vier Windräder errichtet. Aber das ist noch lange nicht das Ende vom Lied.
Der Bürgermeister von Langenhorn, Horst Petersen, ließ gegenüber der „Schleswig Holstein Zeitung“ seinem Unmut freien Lauf: „Ich kann das Wort ,mitnehmen‘ nicht mehr hören. Momentan ist absoluter Stillstand für mich in Sachen Windkraft“, gab er Mitte Dezember 2011 zu Protokoll, nachdem es in der Gemeinderatssitzung erneut hoch hergegangen war. Aktuell geht es um den Ausbau des Windparks auf die geplanten acht Anlagen. Wenn kommunikatives Change Management in Unternehmen schon schwierig ist, dann ist es auf Landesebene erst recht eine Herausforderung.
Der rechte Zeitpunkt für den Dialog
Ist es nicht der Bauer von nebenan, sondern ein Energiekonzern, der einen Windpark errichten will, dann ist der Aufstand sowieso programmiert. Dem ist auch mit einer gesunden Nachbarschaftskommunikation praktisch kaum mehr beizukommen. Das Spektrum der Fehler, die Investoren und Politik machen können, ist breit.
Verglichen mit der schon mal wütenden Kraft von Bürgerbewegungen sind die kommunikativen Prozesse seitens Politik und Wirtschaft eher durch Zaghaftigkeit geprägt: Man möchte keine schlafenden Hunde wecken, informiert deswegen zu spät und zieht so erst recht den Unmut auf sich. So war es auch in Langenhorn, wo die Verantwortlichen offenbar auch den rechten Zeitpunkt für den offenen Dialog nicht gefunden hatten. Ohne dass die Dorfgemeinschaft eingebunden wurde, so der Vorwurf der Aktivisten um Korthaus, wurden Nutzungsflächen beim Land beantragt und Ideen zum Windpark entwickelt.
Gleichzeitig sind die Möglichkeiten der Bürger gewachsen, gegenüber Änderungen aufzubegehren. Mittels Facebook, Blogs, Homepages, Twitter kann sich jede Interessengruppe Gehör verschaffen. Durch die interaktive Flankierung erhalten die klassischen Mittel von Bürgerinitiativen, angefangen beim Leserbrief über Plakate, Broschüren und Flyer bis hin zu Info-Veranstaltungen, zusätzlichen Auftrieb. Auch die Verbreitung von Pressemitteilungen ist durch die Digitalisierung längst keine Hürde mehr für aufgebrachte Bürger.
Eine Facebook-Gruppe ist in fünf Minuten gegründet. Dabei müssen die bürgerlichen Aktivisten sich nicht mit umständlichen Abstimmungsverfahren herumschlagen, wie es die Kommunikationsoffiziere in den Unternehmen oft tun müssen. Im Gegensatz zu Unternehmen und Politik kommunizieren entschlossene Bürger schnell und direkt: emotional bis hin zum Sarkasmus, lauthals bis hin zum offenen Protest. Das mag oft chaotisch wirken, ist aber vor allem aufmerksamkeitsstark.
Für Unternehmen ist es schwierig, darauf adäquat zu reagieren. Und sie reden auch nicht gern darüber, wie sie mit Bürgerinitiativen umgehen. Sich in den Austausch via Social Media einzumischen ist erfahrungsgemäß nicht unbedingt ratsam, selbst Soziale Netzwerke für sich zu nutzen ist riskant und kann nach hinten losgehen. Denn die werden gern untergraben von aufgebrachten Gegnern, die naturgemäß kommunikativer sind als Befürworter.
Es ist so ähnlich wie bei einem Online-Bewertungsportal: Der enttäuschte Restaurantbesucher neigt viel stärker dazu, seinen Frust publik zu machen als derjenige, der sich nach einem schönen Abend zufrieden auf die heimatliche Couch fallen lässt. Und der Trick, mithilfe einer PR-Agentur eine Gegeninitiative zu gründen ist ein alter, der schnell durchschaut wird.
Eine neue politische Kraft?
Nichtsdestotrotz müssen sich Unternehmen darüber Gedanken machen, wie sie auf die erstarkte Bürgermeinung reagieren wollen. Niemand weiß genau, wie viele Initiativen es bundesweit gibt. Schätzungen bewegen sich laut der Bundeszentrale für politische Bildung zwischen 1.000 und 50.000 – je nachdem, wie man eine Bürgerinitiative definiert. Jedenfalls dürften heute mehr organisierte Protestforen existieren als je zuvor. Die Gesamtzahl der Bürger, die als aktive Mitglieder oder anlassbedingt als Sympathisanten in Bürgerinitiativen arbeiten, hat die Gesamtzahl aller Mitglieder der im Bundestag vertretenen Parteien (mehr als zwei Millionen) mittlerweile offenbar deutlich übertroffen.
Außerdem trauen die Bürger den Initiativen mehr als den Parteien. Den wirkungsvollsten Beitrag zum Umweltschutz erwartete zu Beginn der 80er-Jahre knapp die Hälfte der Befragten von den Bürgerinitiativen (48 Prozent), nur ganze acht Prozent, also gerade die doppelte Anzahl der Menschen, die heute Mitglied einer Partei sind, setzten damals ihr Vertrauen in die Parteien. Aktuell vergleichende Untersuchungen gibt es nicht.
Die hohe Attraktivität der Bürgermitwirkung in Initiativen wird noch deutlicher, wenn man neben der faktischen auch die erklärte Partizipationsbereitschaft ins Kalkül zieht: Knapp 50 Prozent der bundesdeutschen Wahlbevölkerung sind verschiedenen Erhebungen zufolge bereit, sich in Verbindung mit bestimmten Fragen und Problemen von hohem Betroffenheitsgrad (wie beispielsweise der Kernenergie oder dem Engagement für den Frieden) auf Seiten der Bürgerinitiativen zu engagieren. Die Bereitschaft, Parteimitglied zu sein, hat seit Anfang der 90er-Jahre, über das gesamte Spektrum der Parteienlandschaft hinweg, nachgelassen.
Verbände für Bürgerinitiativen
Bisher galt, dass Bürgerinitiativen sich meist auf eingegrenzte Sachprobleme beschränken und stark regional organisiert sind. In der Vergangenheit waren Bürgerinitiativen deshalb nur punktuell einflussreich. Greenpeace beispielsweise war 1970 auch nichts weiter als eine Bürgerinitiative gegen Atombombenversuche. Mittlerweile ist die Organisation hochprofessionell, eine international bekannte Marke mit großem politischen Einfluss.
War der Weg durch die Instanzen in den Siebzigern sehr steinig, so ist es heute einfacher, sich Gehör zu verschaffen. So ist die Initiative „Lebenswertes Langenhorn“ Mitglied im landesweiten Zusammenschluss Gegenwind Schleswig-Holstein, der 35 Windkraftgegner-Organisationen bündelt. Zudem hat sich die Gruppe um Sprecher Korthaus auch der EPAW angeschlossen, der European Platform Against Windfarms. Allein aus Deutschland sind hier 73 Bürgerinitiativen organisiert. Europaweit versammeln sich 514 Bürgervereinigungen aus 23 Ländern unter ihrem Dach.
Ziel der 2008 in Frankreich gegründeten EPAW ist es, auf EU-Ebene Moratorien für bestehende und geplante Windkraftanlagen zu erreichen. Die Plattform richtet sich ganz klar gegen die Errichtung von „industriellen Windkraftanlagen“. Dazu werden Petitionen gebündelt, bisher vor allem aus Frankreich und Großbritannien, und Berichte über Protestveranstaltungen veröffentlicht – etwa wenn Weltkriegsveteranen gegen Windräder vor der Normandie protestieren oder Umweltschützer gegen Testprojekte in Dänemark.
Wer mit Jutta Reichert, Gründerin von Gegenwind Schleswig-Holstein und Deutschland-Sprecherin der EPAW, Kontakt aufnehmen will, braucht allerdings Glück und Ausdauer. Ein Pressekontakt fehlt auf der Homepage, es gibt lediglich eine französische Telefonnummer und eine allgemeine E-Mail-Adresse. Gegen die typischen Anfängerfehler von Bürgerinitiativen ist eben auch ein internationaler Dachverband nicht gefeit.