Kleine Lagerfeuer in der weiten Steppe
Plätzchenduft, Rehrücken in der Bratröhre, Blockbuster im Fernsehen. Abtauchen in eine kurze Phase der Erholung innerhalb weniger Tage rund um den Jahreswechsel, in denen (angeblich) nichts passiert: Hurra, es wird wieder Weihnachtszeit! Ich freue mich darauf wie selten zuvor. Weihnachten und Silvester markieren Anfang und leider auch wieder Ende eines einigermaßen ruhig und gerade verlaufenden Plateaus innerhalb jener unentrinnbaren Achterbahn des Wirtschaftslebens, die ansonsten nur noch Loopings kennt. DAX rauf, DAX runter. Euro gerettet und doch wieder nicht. Aufschwung, Abschwung. Frieden, Krieg. Wenn sich der Normal-Mitteleuropäer heute überhaupt noch auf etwas verlassen kann, dann auf die Ruhe am Ende eines Jahres, wie bewegt dieses auch gewesen sein mag.
Ich habe, auch in diesem Jahr, wenig Lust auf Rückblicke. Denn sie sind zunehmend mühsam. Was war (außerhalb des Privaten) „wichtig“? Wer sagt eigentlich, was „wichtig“ und relevant ist? Die Welt zerfällt in nicht mehr einschätzbare, komplett irrationale Finanzmärkte einerseits und bürgerliche Gegenbewegungen („Occupy sonstwas“) andererseits und vieles dazwischen; angefacht, beschleunigt und vermengt durch die Unübersichtlichkeit mikroskopischer „sozialer“ Medienformate, die alle gleich wichtig – oder alle gleich unwichtig – sind.
Große Geschichten, kleine Geschichten
Wer in diesem verwirrenden Kosmos als Journalist seine Brötchen verdient, muss dennoch immerfort irgend welchen Content produzieren. Also macht man die Dinge entweder groß, wie Heribert Prantl, der in seinen brillanten Leitartikeln in der „Süddeutschen“ nach spätestens zwei Absätzen beim Grundgesetz zu landen pflegt und dann auf Latein weitermacht; oder man macht die Dinge klein, als ein relativierender Beobachter im Detail, wie jene „taz“-Autoren, die neulich die „Geheimpapiere der Atomlobby“ veröffentlichten (pardon: „enthüllten“), letztlich aber weder dem Atomforum noch dem involvierten Berliner Professor Joachim (seine Freunde an der Spree nennen ihn Jockel) Schwalbach explizit beikommen konnten. Beides, das Groß- und das Kleinmachen, sind probate journalistische Techniken, die dazu dienen, mit der allgegenwärtigen Unübersichtlichkeit umzugehen.
Auf Seiten der Wirtschaft und in den Chefetagen der Kommunikation ist die Entsprechung dieses Phänomens ein (berechtigtes) Lamento darüber, dass es erstens keine gemeinsamen Werte und zweitens keine sichtbare Person mehr gebe, die „für die Wirtschaft sprechen“ könnte. Daran aber ist „die Wirtschaft“ selbst schuld: Man taucht lieber ab.
Danke für die schöne Zeit, Herr Heck!
Ich fand es bezeichnend, wie das „SZ-Magazin“ neulich Dieter Thomas Heck („Status: voll die alte BRD“) beschrieb: Über dessen Autobiografie hätten „die Boulevardmedien einen halben Vormittag lang berichtet. (…) Danke für die schöne Zeit, Herr Heck, danke für alles, aber jetzt genießen Sie wieder die spanische Sonne, es ist anstrengend geworden in Deutschland.“ Ja, das stimmt. Die „Hitparade“ ist tot, und „Wetten dass..?“ – ach…!
Das „Lagerfeuer“-Axiom, das sich in der landläufigen Deutung ursprünglich auf wenige wegweisende Medienformate bezieht, um die herum sich die Gesellschaft versammelt, bekommt vor diesem Hintergrund eine völlig neue Bedeutung: Viele kleine Lagerfeuer leuchten an verschiedenen Stellen in der weiten Steppe zerfallender publizistisch beeinflusster Meinungsbildung. Drum herum ist es dunkel. Sehr dunkel und sehr kalt. Wärmen wir uns also ein bisschen, wo es noch geht, im Kleinen oder im Großen. Es ist schließlich Weihnachtszeit.
Sebastian Vesper ist Editorial Director von Haymarket in Deutschland. Von 1997 bis 2009 war er Chefredakteur beim PR Report.