Mit der „Initiative Klarheit und Wahrheit bei der Kennzeichnung und Aufmachung von Lebensmitteln“ nimmt die Politik eine ihrer Kernaufgaben wahr: die Kommunikation zwischen Wirtschaft und Gesellschaft zu koordinieren. Im Zentrum steht dabei das Internet-Portal Lebensmittelklarheit.de.
Von Peer Brockhöfer
Klarheit bei den Regelungen zur Lebensmittelkennzeichnung zu erzielen, ist nahezu unmöglich. Das weiß man auch im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV). Trotz der „Vorschriften zum Schutz vor Täuschung“ im Lebensmittel- und Futtergesetzbuch, gibt es „naturgemäß eine Grauzone“, heißt es dort. Denn: Was ist noch eine legitim positive Darstellung des Produkts auf der Verpackung, und wo fängt Täuschung an? Ebenfalls naturgemäß gehen hier die Vorstellungen von Unternehmen und deren Kunden mitunter weit auseinander. Während mancher schon enttäuscht ist, wenn das Fertiggericht nicht so aussieht, wie der „Serviervorschlag“ es nahelegt, oder sich fragt, was am „Premiumbier“ eigentlich so besonders ist, sehen sich die Hersteller einem im wahrsten Sinne des Wortes gesättigten Markt gegenüber. Die Bürger sind ausreichend mit Lebensmitteln versorgt, und so werden immer neue Produktvarianten auf den Markt gebracht und beworben. Laut Lebensmittelbranche gibt es etwa 170.000 Getränke und Nahrungsprodukte auf dem deutschen Markt. Da kaum noch jemand den Überblick hat, gründete Bundesministerin Ilse Aigner die „Initiative Klarheit und Wahrheit bei der Kennzeichnung und Aufmachung von Lebensmitteln“.
Transparenz steht im Mittelpunkt
Zentraler Baustein der Initiative ist das Internetportal Lebensmittelklarheit.de. Ministerin Aigner hat sich damit zum Ziel gesetzt, die oben beschriebene Grauzone zu beleuchten. Lebensmittelklarheit.de wird vom Bund finanziert. Der Etat des BMELV sieht für das kommende Jahr Ausgaben in Höhe von etwa 5,28 Milliarden Euro vor. „Mit diesen Mitteln sichern wir die Grundlage für eine moderneAgrar- und Verbraucherpolitik. Umfassender Verbraucherschutz, Transparenz und Zuverlässigkeit stehen im Mittelpunkt“, sagte Aigner im Rahmen der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag Anfang September in Berlin. Für die Verbraucherpolitik sind 148,6 Millionen Euro vorgesehen.
Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Verbraucherzentrale Bundesverband, der dabei mit der der Verbraucherzentrale Hessen kooperiert. Umgesetzt hat das Portal die Digital-Agentur Init, die seit 1995 aktiv ist und für Verbände, Organisationen und politische Institutionen arbeitet. Unter anderen für den Bundesverband der Deutschen Industrie, das Bundeskanzleramt, den Freistaat Sachen, das Land Rheinland-Pfalz und die Bundesagentur für Arbeit. Vor diesem Hintergrund wundert es ein wenig, dass das Portal gleich nach der Freischaltung in die Knie ging. Grund dafür sei der hohe Ansturm auf das Portal gewesen, sagen die Verantwortlichen und untermauern damit gleichzeitig die Daseinsberechtigung für die Website. Etwa vier Wochen nachdem das Portal Lebensmittelklarheit.de am 20. Juli gestartet war, lagen dort Anfragen zu 1.600 Produkten vor. Die ersten Produkte, die bereits zum Start auf dem Portal behandelt wurden, sind ausgewählte Fälle, die von Konsumenten an die Verbraucherzentrale herangetragen wurden, nachdem Aigner im Oktober 2010 ihre Initiative angekündigt hatte.
Durchschnittlich betreuen drei redaktionelle Mitarbeiter das Portal. Janina Löbel leitet das Projekt von Berlin aus und koordiniert die Medienarbeit.
Aus Sicht der Initiatoren ist die Angelegenheit harmlos: Man wolle mit Lebensmittelklarheit.de ein Dialogangebot eröffnen, dass nicht nur Verbrauchern offensteht, sondern auch der Wirtschaft die Möglichkeit einräumt, sich klar zu positionieren und „Hinweise zu erhalten, inwieweit sie ihre Produkte verbessern kann“.
Der Informationsbedarf der Bürger steigt
Die Lebensmittelbranche gibt sich gelassen. „Das sind Anfragen, die wir auch schon vorher seitens der Medien und der Verbraucher hatten“, sagt beispielsweise Alexander Antonoff, Stellvertretende Leitung Corporate Communications Unternehmen und Märkte beim Lebensmittelkonzern Nestlé. So gäbe es wegen Aigners Initiative keine besonderen Krisenpläne, sondern, wenn eine Anfrage seitens der Verbraucherzentralen eintrifft, gehe das in die tägliche PR-Arbeit ein. „Es ist eine generelle Entwicklung, dass der Informationsbedarf bei den Bürgern steigt“, so Antonoff. „Dem tragen wir ohnehin Rechnung, beispielsweise durch unsere Social-Commerce-Plattform
www.nestle-marktplatz.de.“ Das Projekt sei nicht als Antwort auf Lebensmittelklarheit.de zu verstehen, an dem Projekt arbeite man seit eineinhalb Jahren. Hier seien 1.500 Produkte von 72 Nestlé-Marken gelistet und erläutert. Etwa bezüglich Allergenen, Inhaltsstoffen und Ernährungsfragen. In einem Blog beginnt das Unternehmen gerade, in den Dialog mit den Kunden und Mitarbeitern zu treten. Künftig sollen Verbraucher auch Produkttester werden können; schon jetzt können sie Verbesserungsvorschläge über die Website einbringen.
„Transparenz und Klarheit bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln sind wichtig, da sind wir mit Frau Aigner einer Meinung“, ist aus der Corporate Affairs-Abteilung von Kraft Foods in Bremen zu hören. Und natürlich nehme man zu Produktanfragen Stellung – egal, von welcher Seite diese an den Lebensmittelkonzern gerichtet würden. Zum Start von Lebensmittelklarheit.de hat das Unternehmen seine Mitarbeiter aktiv über das neue Portal informiert.
Kraft setzt auf direkten Dialog mit Kunden
Kraft Foods hatte sich im Vorfeld zu Lebensmittelklarheit besonders kritisch geäußert. Und nach wie vor sieht man Risiken: „Die öffentliche ,Anprangerung‘ korrekt gekennzeichneter Produkte im Internet, die subjektiv von einzelnen Konsumenten als Täuschung empfunden werden, finden wir bedenklich“, sagt Heike Hauerken, Managerin Corporate Affairs. Sehr schnell könne ein Bild über ein Produkt oder Unternehmen entstehen, das nicht den Tatsachen entspräche. Lieber setzt man auf den direkten Dialog mit den Verbrauchern, etwa über die Konsumenten-Hotline. „So können wir sehr gut und konkret auf Fragen und Hinweise eingehen.“
Der Spitzenverband der Lebensmittelwirtschaft BLL (Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V.) reagierte auf
Lebensmittelklarheit.de mit neuen Seiten in seinem Webauftritt bll.de. Dort findet sich ein Bereich, der sich des Themas annimmt und sagt, worauf es ankommt: „Lebensmittelklarheit bedeutet: Kennzeichnung verstehen“. Das Angebot ist wenig dialogorientiert, sondern arbeitet mit Beispielen. Zuerst wird eine Packung und deren Aufmachung erklärt („Lebensmittelverpackungen – Was draufsteht ist auch drin“). Anhand des Produkts „Katzenzungen“ wird verdeutlicht, dass „die Verpackung mit der Katze und der Name ,Katzenzunge‘ dafür sorgen, dass der Konsument das Produkt leicht wiedererkennt“. Dieses sei natürlich aus Schokolade. Und überhaupt: Wer einen Joghurt-Becher mit dem Bild einer Ananas im Kühlregal erblicke, wisse schnell: Es handelt sich um einen Joghurt mit Ananasanteilen und eventuell mit entsprechenden Aroma – er erwarte keine ganze Ananas im Becher.
Der BLL will Aigners Initiative „konstruktiv aber kritisch“ begleiten. Schließlich führe „jede marken- oder unternehmensbezogene Nennung in der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit einer ,gefühlten‘ Irreführung oder gar einer Nennung unter der Rubrik ,Getäuscht‘ zwangsläufig zu einem negativen Image des Produkts oder des Herstellers“.
Verteidigen, statt in Deckung gehen
Auch PR-Agenturen bereiten sich auf ein kommendes Geschäftsfeld vor. Beispielsweise Engel & Zimmermann aus Gauting bei Starnberg in Bayern. Zusammen mit der Anwaltskanzlei Meyer Meisterernst lud sie schon im Vorfeld des Launches von Lebensmittelklarheit.de zu einer Informationsveranstaltung mit dem Titel „Klarheit und Wahrheit? Strategien im Umgang mit dem Onlinepranger“ ein. „Schließen Sie sich zusammen. Lassen Sie es nicht zu, dass die Lebensmittelindustrie ständig an den Pranger gestellt wird – und in Deckung geht, statt sich zu verteidigen“, riet Agenturchef Peter Engel den anwesenden Vertretern der Industrie.
Sieben Tage hat ein Unternehmen Zeit, um sich zu einer Beschwerde eines Verbrauchers zu äußern. Für die schriftliche Stellungnahme blieben ihm nur 2.000 Zeichen. Dann wird der Fall von der Redaktion der Verbraucherzentrale veröffentlicht. „Wer mehr braucht, läuft Gefahr, ausgebremst zu werden“, bemängelt Alfred Hagen Meyer von der beteiligten Anwaltskanzlei. Anklage und Stellungnahme landeten dann – samt Produktabbildung – im Internet und könnten dort diskutiert werden.
Unklar bleibe: „Wer ist der Absender einer ,Meldung‘ – ein besorgter Verbraucher? Eine Verbraucherschutzorganisation? Oder ein Wettbewerber?“ so Meyer weiter. „Die Seite verspricht Anonymität – dem Absender wohlgemerkt, nicht dem Unternehmen.“ Die Agentur Medivendis warnt davor, dass Gerichte nun Lebensmittelherstellern zunehmend auf die Pelle rücken würden, und rät daher zu einer rechtlichen Vorab-Prüfung einer jeden Kampagne.
Das sollte man aber schon seit Langem tun, denn schließlich gibt es solche Portale schon geraume Zeit. Das bekannteste ist wohl abgespeist.de der NGO foodwatch. Hier sind die Parallelen unverkennbar, ist doch der Aufbau und die Funktion der beiden Websites ähnlich. Bei foodwatch sieht man aber Aigners Initiative nicht als Konkurrenz, sondern als Bestätigung ihrer bisherigen Arbeit: „foodwatch begrüßt die Initiative zu dem Internetportal lebensmittelklarheit.de. Die Bundesregierung erkennt damit erstmals offiziell an, dass das Problem des ganz legalen Etikettenschwindels der Lebensmittelindustrie existiert – es ist also eine amtliche Bestätigung dessen, was wir bereits seit 2007 sagen“, so Martin Rücker, Pressesprecher von foodwatch. „Aber die Initiative kann nur ein erster Schritt sein. Denn wir brauchen Klarheit nicht nur für einige, wenige Produkte im Internet, sondern Klarheit für alle Produkt im Supermarkt, direkt auf den Etiketten. Wir messen die Politik der Bundesregierung also nicht an einer Internetseite, sondern an der konkreten Politik. Hier wird sich zeigen, ob es die Ministerin ernst meint.“ Und ob die Verbraucherzentrale demnächst den Status von abgespeist.de erreicht, ist fraglich. Schließlich hat Letztere einen Vorsprung von einigen Jahren und vergibt den Negativ-Preis „Goldener Windbeutel“, der alljährlich für viel Medieninteresse sorgt.
Die Befürchtungen hinsichtlich Lebensmittelklarheit.de waren groß, und nachdem Nielsen Netview für Lebensmittelklarheit.de im Juli fast 500.000 Zugriffe verzeichnete, schienen diese auch berechtigt. Allerdings kann ein Blick auf die Seite zunächst beruhigen. Bis 13. Oktober waren erst 38 Produkte bei dem Portal des Verbraucherzentrale Bundesverbands gelistet. Darunter bekannte Klassiker sowie die Haselnussschnitte „Hanuta“ aus dem Hause Ferrero oder regionale Produkte wie die Milcherzeugnisse des Herstellers „Mark Brandenburg“.
„Man kann nicht sagen, die Großen sind böse und die Kleinen sind gut“, berichtet Projektkoordinatorin Löbel. Bei den Reaktionen kann sie feststellen, dass die großen Unternehmen auf vorhandenes Material zurückgreifen. Mittelständler hingegen würden sich bemühen, adäquat auf eine Anfrage zu reagieren. Zu einem Meckerportal ist Lebensmittelklarheit bisher nicht geworden. Das Expertenforum ist bereits freigeschaltet, die Chats in Vorbereitung. Dort sollen Verbraucher Fragen stellen können. Antworten werde es dabei allerdings nicht nur von Verbraucherschützern geben, betont Löbel. „Wir arbeiten daran, Vertreter aus der Wirtschaft dabeizuhaben“, sagt sie. So soll gewährleistet werden, dass die Plattform nicht nur eine Seite der Meinungen widerspiegelt, sondern tatsächlich das bietet, was angekündigt war: einen ausgeglichenen Dialog zwischen Konsumenten und Unternehmen.