Die Pharmaindustrie tut sich im sozialen Netz bislang schwer. Vor allem rechtliche Beschränkungen erschweren die Kommunikation. Die EU könnte das bald ändern.
Von Klaus Janke
Gedrängel bei Facebook, Twitter, Youtube, Wer-kennt-wen und Co: Immer weniger Unternehmen verzichten noch auf Aktivitäten im Social Web, auf Fan-Seiten, auf Markenblogs oder die Teilnahme an Diskussionen in Foren. Der direkte Dialog mit den Kunden gilt den Marketingstrategen als neuer Königsweg der Kommunikation. Nur eine Branche hält sich noch auffällig zurück: die Pharmaindustrie. Vor allem in dem wichtigen Bereich der verschreibungspflichtigen Medikamente herrscht weitgehend Funkstille. „Vielfach beschränken sich die Aktivitäten in Deutschland heute noch auf das Monitoren und Evaluieren dessen, was andere im Web über sie posten und chatten“, sagt Julian Schmittgall, Geschäftsführer der Agentur Schmittgall Tower5 in Stuttgart, die digitale Strategien für Unternehmen entwirft und umsetzt. Ähnlich sieht es Markus Hanauer, Geschäftsführer beim Konkurrenten Spirit Link Medical in Erlangen. Zwar seien alle großen Firmen bereits mit Projekten unterwegs, „sie verhalten sich aber noch sehr vorsichtig. Und: Sie nutzen die Spielräume, die sie haben, noch nicht aus“.
Dabei sind Patienten und Konsumenten geradezu versessen auf Informationen aus dem Internet. Wer will und kann schon immer den Arzt fragen? Zudem interessieren auch alternative Einschätzungen. Herstellerunabhängige Gesundheitsportale erfreuen sich daher großer Beliebtheit: Die Website Netdoktor.de verzeichnet monatlich mehr als 2,4 Millionen Besucher. Das Internet ist Leitmedium, wenn es um Gesundheitsfragen geht, ergab 2010 eine Untersuchung der Agenturgruppe MSL. Das heißt auch: Hier wird intensiv Meinungsbildung betrieben. Wenn die Pharmaindustrie diese nicht ausschließlich anderen überlassen will, ist sie gut beraten, mitzumischen.
Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund des Anfang des Jahres in Kraft getretenen Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG). Bei der darin vorgesehenen Bewertung des Nutzens oder Zusatznutzens von Medikamenten sollen über das sogenannte Scoping auch Patientenorganisationen einbezogen werden. Der Meinungsbildungsprozess der Patienten könnte insbesondere durch das Social Web beeinflusst werden.
Hinzu kommt eine weitere Entwicklung: „Bei immer mehr Präparaten übernimmt nicht mehr das System die Kosten, sondern der Patient“, betont Andrea Brückner, Partnerin im Bereich Pharma- & Medizin-Produkte beim Beratungsunternehmen Accenture in Kronberg. „Einige betroffene Hersteller haben das erkannt und auf markenbildende Kommunikation mit dem Endverbraucher umgestellt, zum Beispiel über Social Media.“
Kommentare unerwünscht
Viele sind es aber noch nicht. Während frei verkäufliche oder lediglich apothekenpflichtige Produkte bereits häufig im Social Web angeschoben werden, werden die Aktivitäten bei verschreibungspflichtigen Medikamenten vor allem von drei Faktoren gehemmt. Das größte Hindernis ist das deutsche Heilmittelwerbegesetz (HWG). Es verbietet den Unternehmen, in Kommunikation und Werbung bestimmte Präparate zu nennen – lediglich die Unternehmensmarke darf auftauchen. Anders als in den USA ist produktspezifische Kommunikation dadurch nicht möglich.
Wenn allerdings zum Beispiel im Blog eines Unternehmens ein Nutzer ein Medikament erwähnt, ist das in Ordnung – so lange ihn der Blogbetreiber nicht dazu aufgefordert hat und er dies nicht weiter kommentiert. Hier lauert aber das zweite Hemmnis: Nennen Nutzer Nebenwirkungen, ist der Hersteller verpflichtet, diese unverzüglich an die Aufsichtsbehörden zu melden – eine Regelung, die ein kontinuierliches Verfolgen aller Beiträge erfordert, was aufwendig und teuer ist. Daher verzichten Hersteller gern auf den Rückkanal für den Nutzer – etwa Pfizer auf der Facebook-Seite für die Initiative „Mehr Zeit gewinnen – für Patienten mit Nierenkrebs“: „Wir bitten um Verständnis, dass im Rahmen der Initiative die Kommentarfunktion nicht aktiv ist“, heißt es dort. „Wir möchten damit nicht die Meinungsvielfalt unterbinden, sondern unseren rechtlichen Verpflichtung nachkommen können und sicherstellen, dass die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden können.“
Das dritte Problem sind die für Pharmaunternehmen typischen umständlichen Freigabeprozesse für Texte – die durchaus verständlich sind: Die Firmen tragen eine große Verantwortung, und sie sind durch zahlreiche Skandale und damit verbundener Negativ-PR gebrannte Kinder, die sich lieber einmal zu viel rückversichern. Aktivitäten in Blogs und auf Fan-Seiten erfordern aber schnelle Reaktionen.
Wer trotz dieser Hürden einsteigen will, thematisiert – egal, ob in der klassischen Werbung oder im Internet – nicht ein einzelnes Produkt, sondern dessen Anwendungsgebiet, also die betreffende Krankheit. Dieses Vorgehen empfiehlt sich auch für Social Web-Kampagnen: „Der breite Einsatz für Disease Awareness Campaigning kann heute schon praktiziert werden – und findet auch statt“, beobachtet Schmittgall. „Dafür war das Web schon in der Version 1.0 prädestiniert, und in der Version 2.0 eröffnet es heute natürlich ganz neue Möglichkeiten.“
Eine viel beachtete Benchmark ist MS Gateway, das
Portal der Bayer-Vertriebstochter Bayer Vital zum Thema Multiple Sklerose. Umfassend wird hier über die Krankheit informiert, Veranstaltungen werden angekündigt, und das Magazin „lidwina“ ist als Download erhältlich. Eine Community, die mehr als 11.000 Mitglieder zählt, bietet darüber hinaus allen Interessierten die Möglichkeit, sich mit anderen Betroffenen oder deren Angehörigen auszutauschen. Über 100.000 Forenbeiträge wurden bereits veröffentlicht.
Blüte der Indikations-Websites
Viele weitere Pharmaunternehmen gehen einen ähnlichen Weg. So thematisiert Lilly mit
www.helden-der-liebe.de Erektionsschwierigkeiten, No-vartis auf
www.transplantation-verstehen.de mit Hilfe von Spirit Link Medical Transplantation. Astra Zeneca in Wedel hat im vergangenen Herbst in Kooperation mit dem Bundesverband niedergelassener Kardiologen und der DAK
www.herzbewusst.de gelauncht, ein Informationsportal für Herzinfarkt- patienten. Mittlerweile ist auch die Deutsche BKK im Boot. „Es geht dabei vor allem um die Phase nach dem Herzinfarkt. Hier fallen viele Patienten zu schnell wieder in alte Verhaltensmuster zurück“, sagt Sprecherin Kerstin Heinemann.
Das Angebot kommt recht gut an: Die Website verzeichnete von Mitte November 2010 bis Mitte Januar 2011 mehr als 33.000 Visits und eine durchschnittliche Verweildauer von knapp drei Minuten. Ein Ausbau ist schon geplant: „Wir denken über weitere Services nach, die mehr Interaktivität erlauben, zum Beispiel E-Learning oder für Ärzte Online-Programme im Rahmen der beruflichen Fortbildung, also sogenanntes E-CME (Continual Medical Education).“ Kontaktfunktionen oder Foren stehen aber nicht an – auch Astra Zeneca scheut den Aufwand: „Dialogfunktionen würden ein sehr aufwendiges, sozusagen ständiges Beobachten der Diskussionsbeiträge erfordern.“
Die App für den Arzt
Derartige Indikations-Websites werden als guter Einstieg in die Welt des Social Web gesehen. Über sie lassen sich Communitys betroffener Patienten aufbauen. Und wenn man auch nicht über das Produkt reden kann, lässt sich doch immerhin Markenpflege betreiben: „Wir wollen auf das Krankheitsbild aufmerksam machen, Verantwortung übernehmen und unser Unternehmen im Rahmen dieser Thematik positionieren“, benennt Kerstin Heinemann die strategische Zielsetzung von
www.herzbewusst.de.
Diese Strategie ist aber nicht immer sinnvoll: „Wer eine Kommunikationsmaßnahme über den Weg einer Indikation plant, sollte zuerst prüfen, ob sich diese für einen Austausch eignet, und er sollte ernsthaft bereit sein, den Dialog mit den Betroffenen zu führen“, rät Stefanie Dölz, Senior Consultant bei der Agenturgruppe MSL. „Die Maßnahme sollte zudem langfristig angelegt sein.“ Im Bereich der verschreibungspflichtigen Medikamente sind vor allem Patienten mit chronischen Erkrankungen an derartigen Plattformen interessiert.
Einen Einstieg können auch Angebote für die Ärzteschaft darstellen: „Themenspezifische Fachportale und Akademien mit Web 2.0-Elementen werden unserer Erfahrung nach von der Fachzielgruppe sehr gut angenommen“, berichtet Schmittgall. „Selbst Apps für iPhone und Co. eröffnen im Bereich der Fachkommunikation einen nicht zu unterschätzenden Kanal.“ Überschätzen sollte man die Möglichkeit allerdings nicht. Unabhängige Portale wie
www.coliquio.de sind bei den Ärzten bereits nachhaltig etabliert, hier dürfte der Großteil des Diskurses auch weiter stattfinden.
Wer sich für eine Social Web-Strategie entscheidet, ist gut beraten, erst einmal den bestehenden Markt gut zu sondieren. Nur eine saubere Bestandserhebung versetzt das Unternehmen in die Lage, die wichtigste aller Fragen zu beantworten: Womit kann ich zum bestehenden Dialog über bestimmte Indikationen etwas Sinnvolles beitragen?
Wichtig ist auch, sich nicht gleich am Anfang zu viel aufzubürden: „Man sollte im Web mit langsameren Medien anfangen, mit einem eigenen Blog etwa, und nicht gleich bei Facebook oder Twitter einsteigen“, empfiehlt Hanauer. Das hat laut Dölz noch einen weiteren Vorteil: „Spezifische Websites mit geschlossenen Bereichen eignen sich für den Austausch besser als Facebook, wo die Diskussion nicht so gut vor Außenstehenden abschirmbar ist.“
Wer ein eigenes Angebot startet, sollte zudem allerhöchsten Wert auf sachliche Information und größtmögliche Glaubwürdigkeit setzen – Werbung ist im Social Web nicht gefragt. Die Pharmaunternehmen arbeiten in dieser Hinsicht bislang auf einem niedrigen Niveau: Laut MSL-Studie halten nur 26,7 Prozent der Nutzer Websites der Pharmaindustrie für glaubwürdig – allen anderen Quellen, vor allem Ärzten (58 Prozent), wird mehr Vertrauen geschenkt. Und wie lässt sich größeres Vertrauen schaffen? Stefanie Dölz rät zum stärkeren Einsatz „unabhängiger Experten“ auf den Seiten. Überdies erhöhen unabhängige Zertifizierungen wie von der Schweizer Health On The Net Foundation (HON) die Glaubwürdigkeit.
Wer kein eigenes Angebot aufbauen will, kann sich natürlich auch an Diskussionen in externen Blogs oder Foren beteiligen. Das Image der Pharmaindustrie ist allerdings nicht so gut, dass man jeden Unternehmenssprecher sofort willkommen heißen würde. Hier ist also genau zu prüfen, ob man den Nutzern einen wirklichen Mehrwert liefern kann. „Wer als Unternehmensvertreter an Diskussionen auf externen Communities oder auf Blogs teilnehmen will, setzt sich am besten zuerst mit dem Betreiber der Seite oder dem Diskussionsleiter in Verbindung“, so Hanauer. „So erfährt er am besten, ob eine Beteiligung sinnvoll und gewünscht ist.“
Der größte Hemmschuh für den Durchbruch des Social Web in der Pharmabranche stellt aber nach wie vor das HWG dar. „Hier besteht dringender Handlungsbedarf von politischer Seite“, glaubt Stefanie Dölz. „Das HWG wurde zu einer Zeit formuliert, als es noch kein Internet gab. Aber heute können Patienten dubioseste Quellen zur Information über Medikamente nutzen, nur nicht die der Hersteller selbst.“ Schmittgall sieht das auch so: „Auch wenn heute jeder mit zwei, drei Klicks alle relevanten Infos auf den US-amerikanischen Websites von Firmen wie Pfizer, Merck und anderen findet und downloaden kann, so gelten in ,.de-Land‘ immer noch andere Regeln.“
Für die Werbung allgemein sieht es auf EU-Ebene nicht nach Lockerungen aus. Allerdings deutet sich für das Internet eine gewisse Liberalisierung an. Das Europäische Parlament hat im November vergangenen Jahres zwei Gesetzentwurfsänderungen unterstützt, in denen das Werbeverbot für verschreibungspflichtige Medikamente noch einmal deutlich zementiert wurde. Aber: „Die Patienten sollten das Recht auf leichten Zugang zu bestimmten Informationen wie die Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels und die Packungsbeilage in elektronischer und gedruckter Form haben. Daher sind zertifizierte und registrierte Webseiten erforderlich, die unabhängige, objektive und werbungsfreie Informationen enthalten.“ Damit wäre immerhin die Bereitstellung sachlicher Informationen auf einer unabhängigen Plattform möglich. Ein Durchbruch sieht zwar anders aus. Vielleicht ist es aber demnächst im Online-Dialog erlaubt, auf die Frage eines Nutzers einen kleinen, bescheidenen Link auf die Produktinformationen zu platzieren. Ein kleiner Schritt für den Web-Administrator, ein großer Schritt für die Pharmaindustrie.