Wenn der Wind sich dreht
Das lange propagierte Image der Atomkraft als saubere und sichere Stromquelle ist mit der Fukushima-Katastrophe kollabiert. In den vier Wochen „danach“ hat es die Atomlobby aber geschafft, die Kosten eines schnelleren Ausstiegs in den Mittelpunkt zu rücken. Von Hans-Dieter Sohn
Sonnenschein und Schäfchenwolken, dazu friedlich grasende Schafe auf einem sanft ansteigenden grünen Deich – neben dem Atomkraftwerk Brunsbüttel. Wie die deutsche Atombranche gesehen werden will, zeigte sie wohl am deutlichsten in ihrer Anzeigenkampagne „Deutschlands ungeliebte Klimaschützer“ aus dem Herbst 2007. „Jahreserzeugung: Sechs Milliarden Kilowattstunden. CO₂-Ausstoß: Null“ stand neben dem Brunsbüttel-Motiv. Sollte heißen: Atomkraft ist grün und klimafreundlich. Was die Lobbygruppe „Deutsches Atomforum“ als Auftraggeber der Kampagne damals nicht wissen konnte: Brunsbüttel sollte fortan wegen einer Pannenserie nicht mehr ans Netz gehen und keine einzige Kilowattstunde Strom liefern.
Vier Jahre nach dieser Kampagne, die der Branche den „Worst EU Greenwash Award“ einbrachte, wurden die idyllischen AKW-Bilder durch die bittere Realität des Fukushima-Super-GAU konterkariert: Eine apokalyptisch anmutende Industrieanlage in verwüsteter Landschaft, Explosionen, Rauch. Anwohner werden evakuiert. Techniker in Schutzanzügen steigen über Trümmerberge, verbrennen sich die Füße an radioaktiv verseuchtem Wasser.
Die Krisenkommunikation der deutschen AKW-Betreiber lief rasch an: Bereits am Tag nach dem Unglück betonten sie in einer gemeinsamen Erklärung, eine „Verkettung eines derart schweren Erdbebens und eines schweren Tsunamis“ sei „in Deutschland nicht vorstellbar“. Ansonsten gab sich die Branche zunächst eher zurückhaltend. Eine gute Strategie? Mehrere Agenturen, die regelmäßig für die Energiewirtschaft tätig sind, wollen sich auf Anfrage nicht zur Kommunikation der AKW-Betreiber in den ersten Wochen nach Fukushima äußern. „Das berührt unsere Geschäftsinteressen“ heißt es da, oder „wir geben Ratschläge nur gegen gutes Geld“.
Die politischen Reaktionen waren umso heftiger, die Geschäftsgrundlage zahlreicher Atomkraftwerke wurde in Deutschland schnell infrage gestellt. Auch die USA, China, Großbritannien, Italien und die Schweiz legten Ausbaupläne oder den Wiedereinstieg auf Eis. „Fukushima hat auch meine persönliche Haltung zur Kernkraft und ihren Risiken verändert“, betonte Angela Merkel rasch.
Vorbei die Zeiten, als sich die Kanzlerin mit den Atombossen vor Kameras lächelnd zuprostete, wie noch im Herbst 2010 mit RWE-Chef Jürgen Großmann. Vorbei wohl auch die Zeiten, als Merkel in kleinster Runde, im Kanzleramt mit den Chefs der AKW-Betreiberkonzerne – und ohne ihren zuständigen Umweltminister Norbert Röttgen – eine Laufzeitverlängerung um durchschnittlich zwölf Jahre für die Atommeiler aushandelte. Oder, wie es der langjährige Bundesgeschäftsführer der CDU und heutige Verbandschef der kommunalen Energieerzeuger Hans-Joachim Reck formulierte: „Die Energiebosse sind einfach bei Frau Merkel durch die Drehtür gelaufen, haben sich auf längere Laufzeiten geeinigt, und hinterher nannte man das ein Energiekonzept.“ Der Branche, rechnete das Öko-Institut vor, winkten Zusatzerlöse von mindestens 57 Milliarden Euro. „So dreist ist in Deutschland noch nie der Eindruck erweckt worden, Politik sei käuflich“, schäumte SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Die frühere Lobbystrategie
Die Atombranche hatte im Vorfeld der Entscheidung über den Ausstieg aus dem Ausstieg auf Angriff geschaltet: In ganzseitigen Zeitungsanzeigen kritisierte sie die zögerliche Energiepolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die notwendige Investitionen blockiere. Die alternativen Energien seien noch nicht so weit, Atomkraft müsse eine „Brücke“ bilden. Mehr als 40 prominente Wirtschaftskapitäne hatten dies unterschrieben. Diese Kampagne habe in jedem Fall „Einfluss auf die Entscheidungsfindung gehabt“, sagte Scholz & Friends Agenda-Geschäftsführer Klaus Dittko dem „Handelsblatt“. Auch mit ihrem ersten gemeinsamen Interview, erschienen in der „Bild“ im August 2010, demonstrierten die Chefs der AKW-Betreiber Einigkeit. Speziell die Jugend wurde 2009 mit Gratispostkarten in Kneipen und Cafés angesprochen, galten doch die nach dem Tschernobyl-Jahr 1986 Geborenen als ideologisch unbelastet: „Willst Du wirklich mit mir Schluss machen?“, hieß es da. „Wir hatten doch so eine gute Zeit...“, schmeichelte das „Deutsche Atomforum“ und erinnerte an 50 Jahre CO₂-freien Strom.
Wie minutiös die Atomlobby in Deutschland auch den Bundestagswahlkampf 2009 begleitet hat, zeigt ein Kommunikationskonzept, das die Unternehmensberatung PRGS Ende 2008, wie es auf dem Deckblatt heißt, „für die E.on Kernkraft GmbH“ erstellt hat. Nachdem das Papier an die Presse gelangt war, bezeichnete es PRGS allerdings als internen Entwurf. Dem dafür mit 109 Seiten recht umfangreich geratenen Konzept zufolge sollten Politiker und Journalisten systematisch auf Pro-Atom-Kurs gebracht werden. Dabei sollte sich die Branche selbst äußerste Zurückhaltung auferlegen, schreibt PRGS. „Die Thematisierung der Kernenergie im Wahlkampf ist nicht im Sinne von E.on“, eine „scharfe emotionale Debatte“ berge die Gefahr, dass vor allem die Anhänger von SPD und Grünen mobilisiert würden, also die Gegner einer Laufzeitverlängerung. Erfolgreich könne die Strategie sein, wenn E.on „beharrlich mit dem Argument Klimaschutz und Versorgungssicherheit den Schulterschluss zwischen Kernkraft und erneuerbaren Energien betont“.
Neue Distanz der Regierung
Nach Fukushima ist die zunächst verhinderte emotionale Debatte losgetreten. Die Umfragewerte der Grünen liegen auf Rekordniveau, die Kunden wechseln scharenweise zu Ökostrom-Anbietern, Zehntausende gehen wieder gegen Atomkraft auf die Straße und die Macher der Anti-Atom-Kampagne „100 gute Gründe gegen Atomkraft“ präsentieren „Bonusgründe“ sowie eine kostenlose iPhone-App. Dahinter stehen 30 Umweltgruppen und die Ökostrom-Pioniere „EWS Schönau“. Auch die Dynamik der politischen Diskussion ist enorm. Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) kündigt gar ein Wettrennen gegen das grün-rote Baden-Württemberg um den Atomkraft-Ausstieg an.
Merkel versucht, den Eindruck mangelnder Distanz zur Atomwirtschaft dadurch zu korrigieren, dass sie ihre Partner vom Herbst zuvor wie die „verantwortungslosen Schmuddelkinder“ behandelt, schreibt der „Stern“. Die Atombranche werde „an den Rand des politischen Universums“ gedrängt, findet „Spiegel Online“. Ein Moratorium der Laufzeitverlängerung wird quasi über Nacht verordnet, mit dem für drei Monate acht alte Meiler heruntergefahren werden oder offline bleiben sollen. Zudem kündigt die Regierung neue Kriterien für AKW-Stresstests an und richtet eilig eine „Ethikkommission“ ein, die den AKW-Betrieb in Deutschland während des Moratoriums neu bewerten soll. „Entscheidungen der Atompolitik“ erklärt Umweltminister Norbert Röttgen der Branche, könnten nicht „das Ergebnis von Verhandlungen mit den Energieerzeugern sein“. Merkel lässt ihn gewähren.
Die Reaktion der Betreiber
Die Atomkraftbetreiber fühlen sich überrumpelt. „So etwas gab es nicht einmal unter Rot-Grün“, zitiert „Spiegel Online“ Anfang April Dieter Marx, Geschäftsführer des „Deutschen Atomforums“. „Es war lange Usus, dass bei politischen Entscheidungen die Energiebranche konsultiert wurde“, beklagt er. Die Lobby der Konzerne braucht etwas Zeit, um eine einheitliche Linie zu finden. Die unterschiedlichen Ausgangslagen der Betreiber machen dies in den ersten vier Wochen nach Fukushima kompliziert.
RWE gibt sich am kämpferischsten und klagt als einziger der vier Betreiber gegen die vorübergehende Stilllegung eines Kraftwerks. „Die deutschen Kernkraftwerke erfüllen die geltenden Sicherheitsanforderungen“, zeigt sich der Konzern in einer Mitteilung überzeugt. Für eine Betriebseinstellung fehle daher die rechtliche Grundlage. Mit diesem Schritt stelle RWE die Wahrung der Interessen seiner Aktionäre sicher. Gleichzeitig setzt der Konzern auf die Klimaschutz- und Kosten-Argumente. „Kernkraft ist CO₂-frei und wirkt preisdämpfend“, teilt Sprecher Jürgen Frech auf Anfrage mit. „Diese Fakten, so bedeutsam sie sind, geraten in der aktuellen Debatte in den Hintergrund.“ RWE-Boss Jürgen Großmann zeigt sich Mitte April unbeirrt: „Es wäre doch eine abstruse Vorstellung, wenn wir hier Kernkraftwerke abschalten, die EU-Standards erfüllen“, sagt er der Deutschen Presse-Agentur.
Der E.on-Konzern wäre von Änderungen bei der Laufzeitverlängerung am stärksten betroffen, da der Konzern an elf der 17 deutschen Meiler Anteile hält. In der öffentlichen Kommunikation versucht der Konzern, sich kooperativ zu zeigen. Ende März teilte er mit, nicht gegen das Moratorium der Regierung zu klagen. Und am Tag der RWE-Klage erläutert E.on-Konzernboss Johannes Teyssen in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Rundschau“, es hätte zwar gute Gründe für den Rechtsweg gegeben, „aber die Gründe dagegen waren noch besser“. Der Konzern wolle sich an einem „offenen und transparenten Dialog zur Transformation des deutschen Energiesystems beteiligen“. E.on wisse sehr genau: „Ohne eine grundlegende gesellschaftliche Akzeptanz lässt sich kein Geschäft auf Dauer nachhaltig oder erfolgreich betreiben.“ E.on bietet zudem als einziger der vier Betreiber auf der Konzern-Homepage „Informationen zur Krise in Japan und zur Diskussion über Kernenergie“ prominent an.
EnBW macht fast die Hälfte seiner Gewinne mit Atomkraft und muss sich Ende März von Greenpeace vorwerfen lassen, deswegen zum Sanierungsfall zu werden. „Ein unlauterer Vorwurf“, konterte Konzernboss Hans-Peter Villis. EnBW habe in den vergangenen zwei Jahren seine Kapazitäten in der Windkraft an Land fast verfünffacht. Diesen Kurs will Winfried Kretschmann, designierter grüner Landesvater und damit EnBW-Großaktionär, forcieren, kündigt er nach der Landtagswahl an. Eine Klage gegen das Moratorium werde noch geprüft, sagt Pressesprecher Ulrich Schröder Anfang April.
Bei Vattenfall ist der Leidensdruck geringer, die beiden zusammen mit E.on betriebenen Meiler Brunsbüttel und Krümmel stehen seit 2007 fast durchgängig still. Bereits vor Fukushima hatte Konzernchef Tuomo Hatakka angezweifelt, ob Brunsbüttel jemals wieder ans Netz gehen werde. Der Konzern verhandelt seit Jahresbeginn mit E.on, ob der Partner die operative Betriebsführung der Meiler in Deutschland übernimmt. „Daher haben wir uns kommunikativ bereits seit Ende des vergangenen Jahres sehr zurückgehalten“, erläutert Konzernsprecher Stefan Müller.
Fokus auf die Kosten
Die Betreiber haben in den ersten vier Wochen nach Fukushima offensichtlich Mühe, mit ihren Argumenten zu punkten. Die Emotionalität der Debatte sei „zum Teil so groß geworden, dass Argumente gar nicht mehr gehört werden oder ausgetauscht werden können“, erklärt EnBW-Sprecher Ulrich Schröder die Stimmung. Bei EnBW gingen seit Fukushima „verstärkt Drohungen, sogar Morddrohungen ein“, klagte Konzernchef Hans-Peter Villis Ende März. „In Tübingen wurde ein Vertriebsbüro von uns verwüstet.“ Es gelte nun, auf Themen wie Netzstabilität, CO₂-freie Stromerzeugung und preisstabilisierende Effekte zu setzen, die „derzeit keine Rolle zu spielen scheinen“, heißt es aus der Branche. RWE-Innogy-Chef Fritz Vahrenholt warnt vor einem baldigen Blackout in Süddeutschland. Umweltministerium und Umweltbundesamt beschwichtigen. Bis 2020, frohlockt die Erneuerbare-Energien-Branche, könne sie Atomstrom „vollständig kompensieren“.
An die Argumente der AKW-Betreiber glaubt Anfang April selbst der Branchenverband der Energieerzeuger BDEW nicht mehr. Nachdem er 2010 noch die Laufzeitverlängerung unterstützt hatte, setzen sich nun die Vertreter der kleineren Energieversorger durch. Spätestens 2023, wie 2002 unter Rot-Grün vereinbart, lautet das neue Ziel des Verbands unter der Führung der Merkel-Vertrauten und Ex-Kanzleramtsministerin Hildegard Müller. „Das ist ungefähr so, als würde der ADAC für ein Verbot großer Limousinen eintreten“, staunt die „Süddeutsche Zeitung“. Damit reiht sich der Verband knapp hinter der SPD (2020) und rund fünf Jahre hinter den Grünen und Umweltbundesamtschef Jochen Flasbarth (2017) ein. Die schwarz-gelbe Koalition will sich erst im Mai oder Juni auf ein neues Datum einigen.
Atom-Cheflobbyist Ralf Güldner, Präsident des „Deutschen Atomforums“, bemüht sich in seinem Medienmarathon seit Fukushima, die Kosten einer Energiewende in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken. Einen Ausstieg vor 2025 sei durchaus möglich, „wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit etwas anknabbern“, sagte er Anfang April. Ähnlich argumentierten Wirtschaftsverbände und der Wirtschaftsrat der CDU.
Schließlich gehen die Betreiber rund vier Wochen nach Fukushima wieder gemeinsam auf Konfrontation mit der Politik und stoppen ihre Zahlungen in einen Ökofonds, mit dem ein Teil der durch die Laufzeitverlängerung ermöglichten Zusatzgewinne abgeschöpft werden soll. Umweltminister Norbert Röttgen rät seiner Partei daraufhin, den Fehler der Laufzeitverlängerung zu korrigieren und gibt der Branche mit auf den Weg: Unternehmen, die sich gegen den gesellschaftlichen Konsens einer „Energiewende“ stellen, „werden das Schicksal der Dinosaurier teilen und aussterben“.