Kampf gegen Windmühlen
Wikileaks und die Folgen: Hochgezogene IT-Zäune werden Unternehmen vor Enthüllungen nicht schützen. Das bessere Gegenmittel sind offene Unternehmenskultur und transparentes Verhalten. Von Roland Karle
Die einen verehren ihn als Freiheitskämpfer und Aufklärer. Die anderen verteufeln ihn als Geheimnisverräter, als wandelnde Gefahr für Staaten und Unternehmen. Julian Assange, Gründer und Kopf der Enthüllungsplattform Wikileaks, polarisiert. Seit vier Jahren betreibt er zusammen mit Gleichgesinnten die inzwischen weltweit bekannt gewordene Internetseite. Schon der Name provoziert jeden Aktenverschließer, Bedenkenträger und Verschwiegenheitsbeauftragten. Wikileaks positioniert sich schon sinnwörtlich als Hort der Indiskretion. „Wiki“ steht für das gemeinschaftliche Ausgraben und Weitergeben von Informationen, den Austausch von Wissen auf einer freien Plattform. „Leak“ ist der englische Begriff für ein Leck, also eine undichte Stelle. Was für alle, die etwas verbergen und der Öffentlichkeit vorenthalten wollen, zu einem Problem werden kann. Längst tummeln sich in den digitalen Fluten des weltweiten Netzes Seiten und Portale, die auf dem Grat zwischen kritischer Kommentierung und übler Nachrede wandeln.
Bei Wikileaks liegt der Fall anders. Es geht nicht um Geplauder, Gerüchte oder Meinungen. Die Plattform ist Anlauf- und Sammelstelle für geheime Dokumente von staatlichen Organisationen und Wirtschaftsunternehmen. Hier landen Verträge und Mailverkehr, Akteneinträge und Filmaufzeichnungen, Besprechungsprotokolle und Vorstandsbeschlüsse. Kurzum: Für interne Zwecke geschaffene Inhalte, die für ihre Verfasser und ihr Umfeld zu brisantem Stoff werden können. Wie brennbarer Treibstoff, der aus einem lecken Tank entweicht.
Vor einem Jahr erreichte Wikileaks zum ersten Mal weltweite Aufmerksamkeit, nachdem Assange in Washington Journalisten ein Video vorgespielt hatte. Zu sehen und zu hören war darauf, wie die Piloten eines US-Hubschraubers in Bagdad auf etliche Zivilisten feuern und sie töten. Spätestens jetzt war Wikileaks für die amerikanischen Behörden zu einer ernstzunehmenden Bedrohung geworden. Im Herbst legten Assange und seine Mitstreiter nach, fütterten internationale Medien, unter anderen den „Spiegel“, mit Geheimdepeschen von US-Botschaftern. Die Verstimmung unter den Regierungen und Diplomaten war groß.
Seither tobt eine Debatte darüber, ob Wikileaks die Speerspitze der Demokratie ist – oder sie, ganz im Gegenteil, geradezu gefährdet, weil sie verantwortungslos mit sensiblen Daten umgeht.
Aber nicht nur mit dem politischen Geschehen beschäftigen sich Wikileaks und ähnliche Plattformen, sondern sie interessieren sich auch dafür, was hinter den Kulissen der Wirtschaft und in Unternehmen vor sich geht. Wer zum Beispiel wissen wollte, welche Methoden die isländische Kaupthing Bank im Kreditgeschäft anwendet, konnte das in Wikileaks zugespielten und dort veröffentlichten Dossiers präzise nachlesen. Zwischenzeitlich hat Assange angekündigt, brisante Dokumente einer US-amerikanischen Bank zu veröffentlichen. Und der ehemalige Julius-Bär-Bankmanager Rudolf Elmer übergab ihm die Daten von mehreren Hundert mutmaßlichen Steuerhinterziehern, unter denen auch vermögende Personen und Firmen aus Deutschland sein sollen. „Auf die Unternehmen rollt eine Enthüllungswelle zu, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat“, folgerte zu Jahresbeginn die „Wirtschaftswoche“.
Bislang ist es ruhig geblieben. Doch die Sorge, wer und was als Nächstes aus digitalen Quellen an den öffentlichen Pranger gezerrt wird, bleibt bestehen. „Die Verunsicherung ist mit Händen zu greifen“, sagt Volker Klenk (siehe Interview). Der Teilhaber und Geschäftsführer der Frankfurter PR-Agentur Klenk & Hoursch gehört zu den Verfechtern einer offensiven Kommunikation und empfiehlt Unternehmen ein Höchstmaß an Transparenz. Die Praxis sieht oft anders aus: Unternehmer und Manager laufen lieber mit zugeknöpftem Kragen als mit offenem Hemd durch die Gegend. Könnte sein, dass die ersten Lockerungsübungen nun gleich wieder eingestellt werden nach all der Aufregung um Wikileaks und im Angesicht dessen, was noch kommen mag.
Abschottung ist die falsche Strategie
Um sich vor schmerzhaften Enthüllungen zu schützen, ziehen Unternehmen die IT-Zäune hoch. Die Standards für Datensicherheit werden nach oben definiert. So will man Vorkehrungen treffen, um ungeschützten Verkehr auf der nur einen Klick entfernten Datenautobahn zu verhindern. Doch gegen das Ausplaudern von Betriebsgeheimnissen und das Weiterleiten von internen Dokumenten „hilft kein Verschlüsselungsalgorithmus“, sagt Klenk. Wer auf technische Mittel allein vertraue, führe einen Kampf gegen Windmühlen.
Zumal „das Risiko für Unternehmen, dass Informationen an undichten Stellen durchdringen, nicht erst seit gestern besteht“, wie der Düsseldorfer PR-Agenturchef Kai vom Hoff betont. Als die Deutsche Bahn hunderttausend Mitarbeiter einem Datenscreening unterzogen, Lidl seine Mitarbeiter per Video überwacht oder die Deutsche Telekom Telefonverbindungen von Aufsichtsräten, Managern und Journalisten durchforstet hatte, brauchte es für das öffentliche Bekanntwerden kein Wikileaks.
Wikileaks ist eben mehr als ein im Internet ansteuerbares Enthüllungsorgan. Es spiegelt und verstärkt einen Trend, nämlich hin zu einer kritischeren Haltung in und gegenüber Unternehmen. Der Unterschied zur analogen Zeit besteht vor allem in der machtvollen und geschwinden Verbreitung von Informationen – hervorgerufen durch die Jederzeit- und Überall-Funktion des Internets.
Mit Offenheit zum wirtschaftlichen Erfolg
Wobei selbst eine inzwischen so bekannte Website wie Wikileaks nicht solitär ihre Wirkung entfacht. „Je mehr Daten verfügbar sind, desto wichtiger ist die Bewertung der Nachricht. Ohne Journalisten, die Wikileaks-Daten sichten, auswerten und einordnen, ist die Plattform nahezu nutzlos“, sagt Tobias Meixner. Der Leiter Unternehmenskommunikation und Marketing der Helios Kliniken in Berlin hält nichts von einer Politik der Abschottung.
Wenn interne Reibereien ihr Ventil in der Weiterleitung kritischer Dokumente fänden, so sei das meist ein Ausdruck schwacher Führungs- und Unternehmenskultur. „Unsere Erfahrung zeigt, dass sich Transparenz lohnt, weil dadurch das Vertrauen in ein Unternehmen wächst“, sagt Meixner. Letztlich begünstigt mehr Offenheit auch wirtschaftlichen Erfolg. „Es wird dadurch interner Leistungswettbewerb ausgelöst, außerdem tragen transparente Strukturen zu einer Versachlichung von Diskussionen und Entscheidungen in Unternehmen bei.“
Überholt und widerlegt gilt das einstige Credo der PR, keine schlafenden Hunde zu wecken. „Die Hunde schlafen schon längst nicht mehr, erst recht nicht in Zeiten von Social Media und Web 2.0“, betont Agenturmann Kai vom Hoff mit Blick auf Wikileaks. Der beste Schutz gegen unbequeme Wahrheiten und ungewollte Veröffentlichungen, so scheint es, bieten immer noch eine offene Unternehmenskultur und transparentes Verhalten.
Die Grenze zwischen der Innen- und Außenwelt eines Unternehmens wird durchlässig, beschreibt Thomas Voigt die Veränderungen, die das Web 2.0 und ihre Kinder wie Wikileaks mit sich gebracht haben. „Es ist das Ende der Wagenburg.“ So lautet auch der Titel eines Beitrags, den Voigt, Direktor Wirtschaftspolitik und Unternehmenskommunikation bei der Otto Group in Hamburg, für das Buch „WertZeichen setzen!“ verfasst hat. Unternehmer, Manager und Kommunikatoren stünden einer grundlegend neuen Herausforderung gegenüber. Voigt schreibt weiter: „Sie verlieren die Kontrolle über die meist mit viel kommunikativem Aufwand gehegten One Voice Policies für ihre Unternehmen und Marken.“ Eine fertige Gebrauchsanweisung, wie man mit dem entstandenen Kontrollverlust umgehen soll, gibt es freilich nicht. Beobachten, lernen, ausprobieren – das empfiehlt Voigt.
Die Zahl der Enthüllungsseiten im Web – siehe international Openleaks, Cryptcome.org, Brusselsleaks und in Deutschland Der Westen, Wir in NRW, Boocompany – wächst weiter. Firmenchefs müssen sich damit abfinden, „ob es ihnen passt oder nicht“, sagt Transparenz-Experte Klenk. Keine gute Nachricht für die schwarzen Schafe in der Herde. „Die Gefahr, dass unethisches Verhalten ans Licht kommt, wird künftig steigen“, prophezeit Klenk. Und beruhigt die Anständigen: „Gut geführte Unternehmen haben nichts zu befürchten.“