Bei Olympia 1972 in München war alles neu: Sponsoring, Ästhetik, die DDR-Mannschaft – und der Terror. Von Frank Behrens
Mit seinen Laufschuhen ist Günter Zahn vor 36 Jahren nicht zurechtgekommen. „Adidas hatte mir die Schuhe nach den Deutschen Jugendmeisterschaften 1972 zur Verfügung gestellt und wollte, dass ich sie trage.“ Kein Wunder, war der damals 18-jährige Jugendmeister über 1.500 Meter doch als letzter Fackelläufer für die Spiele der XX. Olympiade in München vorgesehen und mithin die Person, die am 26. August 1972 vor 80.000 Zuschauern im Stadion und geschätzten 800 Millionen weltweit an den TV-Geräten die Flamme in der bayrischen Landeshauptstadt entzünden sollte. Im Ärger darüber, dass er vom Sportartikelkonzern mehr oder weniger gezwungen wurde, seine Brütting-Schuhe gegen Adidas zu tauschen, schritt Zahn in der Umkleide des Olympiastadions zur Tat: „Die Betreuer sind fast verrückt geworden, aber ich habe fünf Minuten vor meinem Einsatz die blauen Streifen mit weißem Klebeband abgeklebt. Meine Schuhe waren schlicht weiß“, erinnert sich der heutige Polizeibeamte und Lauftrainer der LG Passau. Er sei „genervt“ gewesen, weil Adidas ihm bereits 1971 Schuhe geschickt hätte und daraus wie selbstverständlich ein automatisches Vorrecht abgeleitet hätte.
Das Sponsoring steckte 1972 in den Kinderschuhen. IOC-Präsident Avery Brundage hatte eine klare Meinung zu Profisportlern: Sie hatten bei den Spielen nichts verloren. Erinnert sei an die Causa Karl Schranz. Der österreichische Alpin-Heros jener Zeit durfte bei den 72-er Winterspielen in Sapporo nicht starten, weil er sich mit einem Werbeaufdruck hatte ablichten lassen. Für die Organisatoren galten diese strengen Regeln nicht. So konnte die Firma Dittmeyer sich am 1. November 1971 für 450.000 Mark das Recht erkaufen, das vom Ulmer Designer Otl Aicher geschaffene Münchner Olympia-Signet, ein Lichtrad, auf die Saftflaschen der Marke Valensina zu drucken und sich „Offizieller Lieferant“ der Olympischen Spiele zu nennen. Valensina blieb bis 1984 Exklusivpartner der Spiele.
Im Vergleich zu heute mutet das Ausmaß des Sponsoring bescheiden an. Heute haben zwölf „Top-Partner“, darunter Coca-Cola, Kodak, Lenovo (ab 2009 Acer), McDonald’s, Panasonic und Samsung, für zusammen 866 Millionen US-Dollar das Recht erworben, die olympischen Ringe auf ihre Produkte zu drucken. Wer von den Spielen in München spricht, kommt um drei Themen nicht herum: Architektur und Stadtumbau in München, das Motto der heiteren Spiele und das Attentat auf die israelische Mannschaft am 5. September.
Eine Kampagne zur Olympiabewerbung, vergleichbar der Berliner Bewerbung um die Spiele 2000 und dem deutschen Fünf-Kandidaten-Showdown um die Spiele 2012 mit dem internen Sieger Leipzig, gab es im Vorfeld von 1972 nicht. Die Vorgeschichte ist profan. Im Oktober 1965 hatte das IOC das NOK der DDR anerkannt. Der bundesdeutsche NOK-Präsident Willi Daume funktionierte dies zu einem Argument für Spiele in der Bundesrepublik um.
Die Gegenspiele zu Berlin 1936
Für Daume kam nur München in Frage. Er suchte umgehend nach der Entscheidung zum DDR-NOK den damaligen Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel auf, um ihm die Idee zu präsentieren. Der OB griff nach einer Schrecksekunde („Sauber!“) zu, weil er wusste, dass die Chance, Münchens Infrastruktur mit Landes- und Bundesmitteln auf den neuesten Stand zu bringen, nicht wiederkehren würde. Kein halbes Jahr später, am 26. April 1966, fiel in Rom die Entscheidung für München. Daumes Argumente für die bayrische Metropole ließen Madrid, Montreal und Detroit keine Chance: Spiele im Grünen, Spiele der kurzen Wege und kein Gigantismus wie in Berlin 1936. Schnell kam das Motto der „heiteren Spiele“ hinzu.
Der Bau des Münchner U-Bahn-Netzes wurde entscheidend beschleunigt (Jungfernfahrt 19. Oktober 1971), die Bundesbahn setzte ihre lang gehegten Pläne für eine unterirdische S-Bahn-Stammstrecke unter der Münchner City um (Jungfernfahrt 28. April 1972), und die öffentlichen Straßen wurden ausgebaut, unter anderem der Altstadtring.
Für die größten Diskussionen sorgten jedoch nicht die Verkehrsprojekte, sondern die Olympiabauten auf dem Oberwiesenfeld. Insbesondere das Zeltdach des Stuttgarter Architekten Günther Behnisch polarisierte. Angeblich war es die um Aufträge fürchtende Betonindustrie, die Gerüchte streute, das Dach sei nicht wetterfest. Die ungewohnte Ästhetik und der neue Baustoff Acrylglas verwirrten einige Zeitgenossen bis hinauf in die Bayerische Staatsregierung. Doch Daume hielt am optisch leichten Zeltdach als Gegenstück zum NS-Gigantismus fest. Am Ende waren rund zwei Milliarden Mark – statt ursprünglich geplanter 520 Millionen – auf dem Oberwiesenfeld verbaut, und der Bund der Steuerzahler sprach von der „verschwenderischsten Inspiration der Welt“. Ein Vorwurf, den die Olympioniken gut kontern konnten, war das Dach doch durch Zehn-Mark-Sammelmünzen finanziert worden. Nachdem es am 21. April fertig gestellt worden war, wurde das Olympiastadion am 26. Mai 1972 mit einem Fußball-Länderspiel der Bundesrepublik gegen die Sowjetunion eingeweiht.
Marketing und Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld der Spiele zielten von Anfang an darauf, möglichst viele Menschen nach München und Deutschland zu bringen. Die bayrische Hauptstadt wurde als gastfreundliche „Stadt der Lebensfreude“ beworben, den Besuchern wurden „heitere Spiele“ versprochen. Das von Aicher entworfene Olympiadesign, zu dem neben dem Lichtrad bis heute verwendete Piktogramme für die verschiedenen Sportarten, eine einheitliche Farbgebung (Leitfarbe hellblau) und eine einheitliche Schrift (Univers) gehörten, machte aus München 1972 die perfekt in die Zeit passenden Regenbogenspiele. Als Günter Zahn am 26. August die Flamme in München entzündete, waren seit 1969 weltweit 600.000 Plakate geklebt und 1,6 Millionen Prospekte verteilt worden. In 74 Städten auf fünf Kontinenten hatte es Ausstellungen, Empfänge und Pressekonferenzen gegeben. Der Imagefilm „Eine Stadt lädt ein“ rührte die Werbetrommel für die Stadt, die gern noch als „Weißwurstmetropole“ veralbert wurde und als „Hauptstadt der Bewegung“ eine schwere NS-Hypothek mit sich schleppte. Das einzig typisch deutsche Element der München-PR war das Olympia-Maskottchen, ein bunter Dackel namens „Waldi“. Die Idee soll Dackel-Halter Daume gehabt haben.
Der 5. September ändert alles
Die Eröffnungsfeier selbst (Stadionsprecher: Joachim Fuchsberger, Musik: Orchester Kurt Edelhagen) trug ebenfalls entscheidend zum Bild der Heiterkeit bei. Die Fernsehregie lag bei Robert Lembke, dem Moderator des „heiteren Berufe-Ratens Was bin ich?“. Ein Element der heiteren Spiele war auch der Versuch, in der Kulturmetropole München einen Bezug zwischen Sport und Kunst herzustellen. Neben der offiziellen „Edition Olympia“, die aus Kunstplakaten, unter anderem von Friedensreich Hundertwasser und Oskar Kokoschka, bestand, gab es während der Spiele eine Kunstmeile auf dem Olympia-Gelände, auf der Künstler ihrer Arbeit nachgingen. Mit dabei waren auch Künstler von Horst Kerlikowsky, damals „FAZ“-Korrespondent und Mitbetreiber einer kleinen Galerie. Zu deren Output gehörte eine zehnseitige, bereits vor Beginn der Spiele aufgelegte „Olympia-Illustrierte“, die unter anderem mit Sporthilfe-Chef, Dressurreiter und NS-Arisierungsprofiteur Josef Neckermann hart ins Gericht ging. Kerlikowsky, eigentlich Wirtschaftskorrespondent an der Isar, besuchte für seine Zeitung mehrere Wettkämpfe. Neben den Leichtathletik-Bewerben zählt er das Endspiel der deutschen Hockey-Herren, das diese 1:0 gegen Pakistan gewannen, zu seinen Highlights. Sportliche Höhepunkte waren das siebenfache Gold des US-Schwimmers Mark Spitz, das Hochsprung-Gold der 16-jährigen Ulrike Meyfarth und der Sieg der 4x100-Meter-Staffel der bundesdeutschen Frauen gegen ihre Konkurrentinnen aus der DDR und Kuba.
Am 10. September 1972, dem Tag des Hockey-Endspiels, waren die „heiteren“ Spiele bereits fünf Tage tot. Ein palästinensisches Terrorkommando hatte in den frühen Morgenstunden des 5. September die israelische Mannschaftsunterkunft im Olympischen Dorf überfallen, zwei Israelis ermordet und neun als Geiseln genommen. Nach zermürbenden Verhandlungen mit den Geiselnehmern wurden die Terroristen und ihre Geiseln am späten Abend mit zwei Hubschraubern zum Militärflugplatz Fürstenfeldbruck geflogen, wo eine Boeing 727 auf sie wartete. Die bayrische Polizei hatte versucht, den Palästinensern eine Falle zu stellen, wurde jedoch nach schweren Pannen in einen mehrstündigen Schusswechsel verwickelt, der erst am frühen Morgen des 6. September endete. Keine der neun Geiseln überlebte, fünf der acht Kidnapper starben, auch die bayrische Polizei beklagte ein Todesopfer. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher, sein bayrischer Kollege Bruno Merk sowie Pressechef Hans „Johnny“ Klein (später Regierungssprecher in Bonn) stellten sich im Pressezentrum um 2.30 Uhr den Fragen der internationalen Journalisten.
Die Spiele wurden am folgenden Tag nach einer Trauerfeier und den berühmten Worten des damaligen IOC-Präsidenten („The Games must go on.“) um 16:45 Uhr fortgesetzt. Die verkürzte Schlussfeier fand einen Tag später als geplant am 11. September statt, und Adidas beschwerte sich nie bei Günter Zahn wegen der abgeklebten Streifen.