Meinungsbildung: Und es gibt sie doch...
eKolumnIn Stuttgart wollten sie einen alten Bahnhof um 180 Grad drehen und einkellern. In Hamburg wollten sie das Schulsystem erneuern. In Berlin wollten sie die Einflugschneisen für den künftigen Großflughafen ändern. 2010 wird in Deutschland als ein Jahr in Erinnerung bleiben, in dem diverse Großprojekte des politischen und wirtschaftlichen Establishments fulminant scheiterten (oder, was „Stuttgart 21“ betrifft, stecken blieben). Die Gründe mögen unterschiedlich sein, die Zusammenhänge mehr oder weniger kompliziert – aber gemein ist diesen drei Fußnoten der Geschichte, dass Menschen erfolgreich gegen den verabschiedeten Konsens verdutzter Macher aufgestanden sind, gegen einen politischen Rechtsweg, der eigentlich schon „durch“ war. Gemein ist diesen Projekten, dass sie jeweils im Ruch einer gewissen Gigantomanie standen und dass sie, anders als ein „Finanz-Schutzschirm“ oder eine „Gesundheitsreform“, anschaulich zu fassen waren.
Mosaike statt Pinselstriche
„Öffentliche Meinungsbildung“ ist in diesem Land zuletzt häufig für tot erklärt worden: Abnehmende Reichweite und Relevanz der „klassischen“ Medien und eine neue Unübersichtlichkeit von immer mehr, zunehmend spezialisierten und immer stärker auseinander driftenden Welten im Web 2.0 – so lauten die passenden Phrasen dazu. Aber zerfallen Öffentlichkeit und Meinungsbildung wirklich, nur weil aus den kräftigen Pinselstrichen der versunkenen 20-Uhr-Tagesschau-Bundesrepublik sichtbar facettenreiche Mosaike geworden sind, die erst dann zu scharfen Bildern werden, wenn man sie aus einigem Abstand betrachtet? Und: Was wäre aus den vielen Mosaiksteinchen-Protesten geworden, hätten sie den Weg in die (Massen-)Medien nicht gefunden?
Wie wäre es hiermit: Nicht das Prinzip der Meinungsbildung über Multiplikatoren an sich hat sich verändert, sondern es gibt einfach viel mehr (und andere!) Meinungsbildner und Multiplikatoren als zuvor. Im besten Fall wissen PR-Leute, wo die sitzen. Im Lebensmittelbereich gibt es zum Beispiel kaum noch einen Produkt-Launch ohne foodwatch-Kommentar. Häufig aber treten Kritiker, die zunächst nur in kleinen Netzwerken vorkommen, unerwartet vor die Mikrofone nach wie vor reichweitenstarker Medien. Dann brennt die Hütte.
Eine Konsequenz: Die Grenzen zwischen akribisch-industriell arbeitender Produkt- und „Corporate“-PR, zwischen politischer und kapitalmarktorientierter Kommunikation müssen fallen. Sowohl bei Unternehmen, wo noch immer gern in „Töpfen“ gedacht wird, als auch im Agenturmarkt, wo nach wie vor in der Breite gern „Tools“ verkauft werden. „Integrierte Kommunikation“ (ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Begriff noch einmal aufschreiben würde!) vollzieht sich also nicht in der Integration der Kommunikationskanäle von Pressearbeit bis Social Media, die es irgendwie zu „bedienen“ gilt. Sondern im integrativen Denken auf dem Schachbrett einer veränderten und komplexeren öffentlichen Meinungsbildung.
Wem sag ich was und wie?
Hier könnte eine Unternehmenskommunikation neuen Typs ebenso ansetzen wie ein modernes Agenturmodell jenseits von Tools und Buzzwords. Oder wollen wir erst die begeisterungsblinde, hechelnde Entdeckung des iPads durch die PR-Welt (in der Medienwirtschaft mit Blick auf Nutzergruppen und Kommerzialisierungsaspekte längst ein Riesenhype!) abwarten, um uns durch eine erneute „Kanal“-Diskussion den Blick auf das Wesentliche verstellen zu lassen?
Das Wesentliche ist: Wem sag ich was – und wie? Und was sagt er dann? Das ist alles.
Sebastian Vesper ist Editorial Director bei Haymarket in Deutschland. Von 1997 bis 2009 war er Chefredakteur beim PR Report.