Im antiken Griechenland beteten die Menschen zum Meeresgott Poseidon und opferten ihm Pferde, da sie sich so bei Reisen eine sichere Überfahrt erhofften. War Poseidon guter Laune, sorgte er für ruhige Gewässer und schuf sogar neue Inseln. War er allerdings verärgert und grimmig, stach er mit seinem Dreizack in die Erde und verursachte so Erdbeben, Überschwemmungen und Schiffbruch.
Momentan hat der Bruder des Zeus offenbar eher schlechte Laune, was Erschütterungen insbesondere im schwäbischen Raum zu verursachen scheint. Im Zusammenhang mit schnellen und sicheren Reiseverbindungen leiden die Verantwortlichen des Bahnprojekts Stuttgart 21 unter immer heftigeren Erdbeben, die weite Kreise ziehen und mittlerweile auch die Europäische Union erschüttern: EU-Kommissar Siim Kallas, zuständig für Verkehr, erklärte Stuttgart 21 kürzlich für ein unverzichtbares Projekt, da es das Herzstück der Bahnverbindung Paris-Bratislava bilde.
Die Umwandlung des Stuttgarter Hauptbahnhofs und der Neubau der Strecke Stuttgart-Ulm sind ein Großprojekt von Deutscher Bahn, Bund, Land, Region und der Stadt. War der Umbau des Bahnhofs zunächst ein eher lokaler Streitfall, so brei-tete sich das Beben aus und wurde zu einer nationalen Bewegung. Stuttgart 21 ist nicht nur Wahlkampfthema der baden-württembergischen Landtagswahl im kommenden Jahr, es ist darüber hinaus nationales Symbol für Bürgerferne und Politikverdrossenheit geworden. Außerdem hat das Eingreifen von Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Diskussion dazu geführt, dass erneut die Politik der Bundesregierung auf dem Prüfstand steht.
„In Zukunft wird sich die Frage stellen, inwiefern die Bürger vor Ort lokale Veränderungen und eventuelle Nachteile zum Wohle Europas in Kauf nehmen.“
Hier zeigt sich deutlich, dass das kaum mehr kontrollierbare Wechselspiel zwischen Lokal-, Bundes- und EU-Politik neue Ausmaße annimmt: Bebt es im Kleinen, so ist plötzlich nicht mehr ausgeschlossen, dass auch fern zu Anker liegende „Politik-Tanker“ die immer höher schlagenden Wellen spüren. Nicht nur das, sie könnten sogar Leck schlagen, die Verankerung in der Bevölkerung verlieren und untergehen.
Die europäische Kleinstaaterei kommt im Gegenzug aber auch nicht darum herum, Entscheidungen von den oberen Ebenen zu beachten. Die Einflussnahme der EU ist bislang im Fall Stuttgart 21 noch begrenzt. Auch wenn die EU-Kommission die Pläne dringend befürwortet, so hat das letzte Wort doch die deutsche Politik, wie auch Kommissar Kallas richtig erkannt hat.
Trotzdem wird sich in Zukunft die Frage stellen, inwiefern die Bürger vor Ort lokale Veränderungen und eventuelle Nachteile zum Wohle Europas in Kauf nehmen – hier gilt es, die richtige Balance noch zu finden und von vornherein einen offenen Dialog auf Augenhöhe zu betreiben. Momentan steht der Souverän gegen den Souverän. Der Ausnahmezustand ist da.
Dominik Meier ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikberatung (de'ge'pol). Kontakt: dmeier@miller-meier.de