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14.03.2011   News
Schwester, Tupfer bitte!
 
Das Mitmach-Web wirkt immer stärker auf Kommunikation und Public Relations. Der gesamte Berufszweig befindet sich im Umbruch. Lösungen für künftige Fragen werden bereits jetzt händeringend gesucht. Birte Bühnen hat sich auf dem PR 2.0 Forum in Düsseldorf dazu umgehört.
Männer in grünen OP-Kitteln sucht man hier vergebens. Ärzte im Geiste findet man hingegen viele in Düsseldorf am 12. und 13. April – Ärzte, die am offenen Herzen operieren. So fühlen sich zurzeit viele PR-Leute. Was sie ihren Kunden implantieren, ist Web 2.0, ganz gleich, ob sie für große Agenturnetzwerke arbeiten, in der Kommunikationsabteilung von Konzernen beschäftigt sind oder als Ein-Mann-Agenturen wirtschaften. Keiner will mit einem altersschwachen Herz herumlaufen. Auch weiterhin wollen Unternehmen und Agenturen mit ihrer Kommunikation den Takt vorgeben. Ob der Eingriff lebensrettend oder eher kosmetischer Natur sein wird, können die Doktoren nicht sagen – noch nicht.
Einen besseren Ort als das Hotel Mutterhaus im nördlichen Düsseldorfer Stadtteil Kaiserswerth hätte der Veranstalter KongressMedia aus München für das dritte PR 2.0 Forum nicht finden können. Der rote Backsteinbau mit Alleeeinfahrt und zwei mächtigen Magnolienbäumen vor dem Eingang wurde 1903 als Diakonissen-Krankenhaus eröffnet. „Und nebenan ist eine Nervenheilanstalt“, witzelt Moderator Tapio Liller von Oseon Conversations aus Frankfurt, falls sich die Herausforderungen der Echtzeit-Kommunikation aufs Gemüt legen sollten. Doch die rund 60 Teilnehmer sind guter Dinge. 70 Prozent arbeiten in einer Agentur – mit von der Partie sind unter anderem Grayling, Scholz & Friends, Publicis Consultants und SinnerSchrader – der Rest vertritt Unternehmen wie Coca Cola, Henkel, LandauMedia und ecoco, das Biogetreide verkauft, oder Startups wie Minibusiness.de, einen Online-Vermarkter für Kleinstexistenzen.


Oh, mein Gott!
Alle wollen hören, ob das, was sie bereits für ihre Kunden im Social Web machen, in die richtige Richtung geht. In einem Einsteiger-Seminar und einer Konferenz samt Fallstudien und Workshops haben sie Gelegenheit dazu. Sie suchen Ideen für neue Projekte und erhoffen sich Tipps von Kollegen, die im Web 2.0 schon einen Schritt weiter sind. So wie von Mauro Turcatti. Um das Gesagte zu verdeutlichen, streckt der junge Mann seine Arme mal hierhin, mal dorthin. Turcatti ist Digital Strategist bei Burson-Marsteller in Mailand und beschreibt die Herausforderungen, vor denen die PR angesichts der Echtzeit-Kommunikation steht. Immer schneller treibt er die Zuhörer durch seine PowerPoint-Folien, als habe er Angst, während seiner Präsentation da draußen im Internet eine Menge zu verpassen.
Er beginnt bei den Trendthemen wie Microblogging, Echtzeit-Suche im Netz, Location-based-Services (Ortungsdienste) und Augmented Reality (um digitale Informationen erweiterte Wirklichkeit à la Terminator). Und endet bei den sieben Todsünden der PR im Social Web. Zwischendrin sediert er seine Zuhörer kurzerhand mit der Gleichung RTW + AR = OMG (Real Time Web + Augmented Reality = Oh, mein Gott!). Wofür er Lacher im Plenum und Tweets im Web 2.0 erntet. Doch auch ihm, dem Echtzeit-Experten, bleibt am Ende nichts anderes als ernsthaft zu sagen: „We ain’t see nothing yet.“ Sinngemäß: Wie das Spiel ausgeht, wissen wir noch nicht. Mit einem Klingeln erscheint eine Geburtstagserinnerung auf der Leinwand, die Turcatti sicher in sein soziales Netz zurück dirigiert. Auch er operiert anscheinend immer noch am offenen Herzen.
Kaffeepause. Zeit, um mit Kollegen und Konkurrenten ins Gespräch zu kommen. Hermin Hainlein steht unter einem der rosig blühenden Magnolienbäume draußen vor dem Hoteleingang und blinzelt in die Sonne. Die blonde Frau ist seit 2008 für den Getränkeriesen Coca-Cola im Mitmach-Web aktiv. Jüngst hat die Deutschlandzentrale in Berlin ihren Pressebereich in einen Media Newsroom verwandelt. Dort sind Pressemitteilungen ebenso eingebunden wie Cola-Communitys sozialer Netzwerke. Hainlein belaste vor allem der hohe Arbeitsaufwand, den ihr Aufgabenfeld mit sich bringt. Ständig schwanke sie zwischen Spaß und Begeisterung auf der einen und Angst und Skepsis auf der anderen Seite. Ihren Kollegen gehe es genauso.


„Return On Ignoring“
Zurück im Konferenzsaal. Gemurmel und das Klappern von Laptoptastaturen erfüllt den Raum. Während einige Teilnehmer mit dem Finger über ihre Smartphones streichen, rückt Andreas Maurer sein Headset zurecht. Das vergangene Weihnachtsfest hätte er sich anders vorstellen können, sagt er. Am 25. Dezember startete der Internetprovider 1&1 einen neuen Fernsehspot – den Marcell D’Avis-Spot. Maurer ist bei der 1&1 Internet AG in Montabaur Head of PR Social Media Communications und für die Kampagne verantwortlich. D’Avis leitet die Abteilung Kundenzufriedenheit, ist kein Schauspieler, sondern tatsächlich für rund 130 Mitarbeiter zuständig, versichert Maurer. Das Kundenecho auf den Spot war enorm. Noch heute soll D’Avis, der im Spot seine E-Mail-Adresse in die Kamera hält, 3.000 bis 5.000 Nachrichten am Tag erhalten.
Die Tweet Timeline, die Maurer an die Wand projiziert, zeigt einen starken Anstieg der Kurznachrichten, die das Unternehmen mit Beginn der Kampagne über Twitter verschickt hat– davon rund drei Viertel als Antworten auf Tweets von Kunden: von 129 im Dezember auf 243 Tweets im März. Maurers siebenköpfiges Social Media-Team nutzt den Microblogging-Dienst in engem Kontakt zum Beschwerdemanagement als Support-Kanal. Das wissen die Kunden anscheinend zu schätzen. Der Anteil an negativen Kommentaren in Internetforen tendiert seit März nahezu gegen Null, sagt Maurer.
Während er spricht, die Hände hinter dem Rücken verschränkt oder lässig in die Taschen seiner Anzughose geschoben, streckt Maurer ab und an sein rechtes Bein vor, ganz so, als wolle er seinem Projekt noch einmal einen gezielten Kick versetzen. Dabei habe das Projekt den ROI längst überwunden. Maurer lächelt ins Publikum und ergänzt: den „Return On Ignoring“, den Negativeffekt, den ein Unternehmen erzielt, wenn es Social Media ignoriert. Erst heute früh, vom Zug aus, habe Maurer allen 1&1-Mitarbeitern per E-Mail die neuen Social Media-Guidelines zugeschickt. Früher hießen die einfach Kommunikationsrichtlinien, in denen die Pressestelle als hoheitliche Auskunftstelle des Unternehmens benannt wurde. Diese Regel gilt im Web 2.0-Zeitalter nicht mehr.

„Lieber mit uns als ohne uns“
Das weiß auch Gundula Pabst von der Zeitarbeitsfirma Randstad. Seit sechs Wochen ist die zierliche Frau dort Projektmanager Social Media. Die drei Jahre zuvor war sie in der internen Kommunikation beschäftigt. Für das Unternehmen arbeiten rund 46.000 Mitarbeiter, die meisten davon als Zeitarbeiter. „Da geschieht es auch, dass bei Schwierigkeiten der persönliche Frust auf Internetplattformen verbreitet wird“, sagt Pabst. Bislang sind die meisten dieser persönlichen Kommentare, die sich im Netz zu Randstad finden lassen, negativ. Gerade deshalb wollte die Kommunikationsabteilung, dass die Menschen künftig „lieber mit uns reden als nur über uns“, sagt Pabst. Durch die Einbindung in eine umfassende Web-Strategie wurde die Geschäftsführung davon überzeugt, das Unternehmen dahingehend zu öffnen und die neuen Kommunikationswege aktiv zu nutzen. Seit einem dreiviertel Jahr bewegt sich Randstad – angefangen mit Web 2.0-Tools im Rahmen der internen Kommunikation – im Social Web. Ende Januar eröffnete das Eschborner Unternehmen eine geschlossene Alumni-Gruppe in Xing. Einer der nächsten Punkte auf der Pabst’schen Liste sei die Einrichtung einer offenen Gruppe in diesem Netzwerk. Zudem plane das Unternehmen, ein eigenes Blog und eine Facebook-Fanpage aufzusetzen. Eines der größten Probleme sei es jedoch, die Mitarbeiter zum Mitmachen zu motivieren. Unzählige Fragen muss das Unternehmen klären: Wie viel Zeit dürfen die Mitarbeiter auf ihr Social Web-Engagement verwenden und welchen Nutzen kann das Unternehmen davon erwarten? Wer zahlt für die Accounts? Bislang konsumieren die meisten der mehr als 550 Randstad/Xing-Gruppen-Mitglieder die Inhalte nur. Die Texte stammen von der Kommunikationsabteilung oder dem Betriebsrat. Den konnte die Abteilung für das Beschwerdemanagement auch auf anderen Plattformen gewinnen.
Alexandra Wagstyl hätte Gundula Pabst sicherlich auch überzeugt. Die 21-Jährige ist vom Web 2.0 fasziniert. Sie schreibt gerade an ihrer Bachelorarbeit. Ein halbes Jahr lang geht sie der Frage nach, wie eine Social Media-Strategie für die interne Kommunikation aussehen müsste, um von den Mitarbeitern akzeptiert zu werden. Den Namen des Unternehmens, bei dem sie schreibt und für das sie an der Seminar- und Konferenzveranstaltung teilnimmt, möchte sie in den Medien lieber nicht lesen. Also bleibt Wagstyl ganz Studentin. Eine Suche auf den einschlägigen Plattformen ergibt ohnehin, dass es bei dem Unternehmen in Sachen Social Media noch nicht viel zu entdecken gibt.


Man ist vorbereitet
Diese Vorsicht offenbart ein Dilemma, in dem sowohl Mitarbeiter als auch Führungsetagen zurzeit stecken. Sich nicht im Social Web zu bewegen, halten die Großen mittlerweile geradezu für fahrlässig. Aber sich gegenüber der Netzwelt zu öffnen, lassen sie, wenn überhaupt, nur schweren Herzens zu. Der Gedanke ist gewöhnungsbedürftig, aber Geheimnisse gibt es im Social Web nicht. Wenige Eingaben in den angesagten sozialen Netzwerken genügen und man weiß, bei wem Wagstyl ihre Abschlussarbeit schreibt. Die Studentin verhält sich ihrem Arbeitgeber gegenüber loyal, plaudert keine Geheimnisse aus, vertritt jedoch ihre Meinung – und schöpft dabei aus ihrem in den vergangenen Monaten angesammelten Erfahrungsschatz. So sei es für Unternehmen unter Umständen von Vorteil, nicht in den Macht- und Wirtschaftszentren zu sitzen. Demonstranten oder Journalisten verirrten sich im Krisenfall nur selten vor entlegene Werkstore. Auch die Anti-Nestlé-Kampagne, die Greenpeace über Twitter und Facebook losgetreten hat, habe glücklicherweise nicht auf andere Unternehmen abgefärbt. Dennoch könne es nicht schaden, passende Statements in der Schublade zu haben. Man ist vorbereitet. Die Operation kann beginnen.
Foto: Kongress Media GmbH
 

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