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Gemeinsam lernen bis Klasse 4 oder 6? Das erhitzt die Gemüter in der Hansestadt/Foto: Hertie-Stiftung Alle wollen nur das beste für Hamburgs Kinder. Natürlich auch die Initiative „PRO Schulreform“
14.03.2011   News
Unversöhnlich
 
Die Schulreform in Hamburg, Deutschlands größtes Umbauvorhaben der Nachkriegsgeschichte im Bildungsbereich, spaltet den Stadtstaat. Befürworter und Gegner stehen sich in zwei bürgerlichen Lagern gegenüber, eine Kompromisslinie ist nicht erkennbar. Von Matthias Heining

Das Thema, aber auch seine Begleitumstände polarisieren. Für beide Seiten steht jetzt der 18. Juli im Fokus: An dem Tag wird in der Elbmetropole an den Wahlurnen durch einen Volksentscheid das Schicksal des ehrgeizigen Projekts bestimmt. Bis dahin werden die Protagonisten – inzwischen mit strategischer Hilfe von PR-Agenturen und Kommunikationsprofis – versuchen, die Wahlberechtigten für sich und ihre Argumente zu gewinnen und für den Urnengang zu mobilisieren.
Wie konnte es so weit kommen, dass die kleine Elterninitiative „Wir wollen lernen“ schnell zum großen Sammelbecken von Reformgegnern und ihren Sympathisanten wuchs, die sich alsbald nicht mehr als eine um Bildungsprivilegien fürchtende Clique von Wohlhabenden stigmatisieren ließ? Was war geschehen, dass GAL-Schulsenatorin Christa Goetsch ihre Schulreform unter Verweis auf „Kommunika-tionsdefizite“ – rechtlich durchaus sehr umstritten – mit 200.000 Euro aus dem Steuertopf von einer Werbeagentur schmackhaft machen lassen muss?
Insider der PR- und Kommunikationsbranche in Hamburg sehen das Problem ganz pragmatisch: Kommunikation sei anfangs einfach nicht mitgedacht, der Dialog mit den Eltern vernachlässigt worden. Die traditionelle Öffentlichkeitsarbeit von Politik und Behörde habe zu wenig zündende Argumente geliefert, die die Eltern einbezogen hätten. So sei schnell der Eindruck entstanden, hier solle eine Reform um ihrer selbst Willen, weil sie in Parteiprogrammen manifestiert sei, durchgesetzt werden. Das ließen sich viele Menschen in Zeiten direktdemokratischer Beteiligungsmöglichkeiten jedoch nicht mehr gefallen. Diese Entwicklung bestätigt auch Volker Mittendorf von der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung an der Bergischen Universität Wuppertal: „Obwohl Volksinitiativen, -begehren und -entscheide in Deutschland relativ restriktiv geregelt sind, nimmt ihre Zahl tendenziell zu.“ Er fügt hinzu, dass dies „umgekehrt proportional zur Entwicklung der Beteiligung an Wahlen“ geschehe. Außerdem habe für viele Menschen schon die Vorstellung des Kampfes von David gegen Goliath ihren Reiz.
Der Hamburger Bildungskrieg hat seinen Ausgangspunkt in der 2008 besiegelten Koalition zwischen CDU und GAL. Für manche Kröte, die die GAL dabei zu schlucken bereit war, erhielt die Partei im Gegenzug schulpolitische Zugeständnisse. Zwar konnte die CDU die Gymnasien erhalten, aber ein gleichwertiges Abitur werden auch die neuen Stadtteilschulen bieten, die ab Klasse 7 an die Stelle der Haupt-, Real- und Gesamtschulen treten sollen. Kernpunkt ist die Einführung einer sechsjährigen Primarschule, in der wie bisher an den Grundschulen gemeinsam gelernt werden soll – nur eben sechs statt bislang vier Jahre. Dies geht einem Großteil der CDU-Wählerschaft zu weit, und bei den Deutschen Philologen hielt man dem CDU-Bürgermeister Ole von Beust vor, sich um des Machterhalts Willen „mit den Totengräbern des Gymnasiums zu verbünden“.

Informationswirrwarr
Auf diesem Nährboden hatte die Elterninitiative „Wir wollen lernen“ um den Reformgegner Walter Scheuerl leichtes Spiel. Verstärkt wurde dies durch unglückliche Entscheidungen der Schulsenatorin: So fand die Detailplanung der Reform in Schulentwicklungskonferenzen der 22 neuen Schulregionen statt. Dabei ging es jedoch nur noch um das Wie, nicht mehr um das Ob. Die Öffentlichkeit war nicht zugelassen. Statt dessen bezahlte die Schulbehörde einige freie Journalisten, deren wohlfeile Berichte aus den Konferenzen nach Überarbeitung durch die Behörde ins Internet gestellt werden durften. Auch konkrete Sorgen und Befürchtungen der Eltern tat die Senatorin gern als „Detailfragen“ ab, die zu gegebener Zeit geklärt würden. Dieses Kommunika- tionsverständnis trug – gepaart mit dem durch fast täglich neue Spekulationen geschürten Informa- tionswirrwarr – zu einem Gesamteindruck bei, der den Reformgegnern bis November 2009 rund 184.500 Unterschriften für ihren geplanten Volksentscheid einbrachte. Drei Mal mehr als notwendig.

Geballte Offensive pro Reform
PR-Profis sehen im Fehlen einer klaren Kommunikationsstrategie der Reformbefürworter die Hauptursache für die Stärke der Gegenseite. Inzwischen ist die Pro-Reform-Fraktion breit aufgestellt: In der Bürgerschaft hat sich eine noch nie da gewesene Allparteien-Koalition – CDU, GAL, SPD und Die Linke – in einem Primarschul-Pakt formiert. Gewerkschaften und Verbände unterstützen die Reform ebenso wie der Verein „Chance für alle – Die Schulverbesserer“, dem sich auch andere Initiativen wie „Pro Schulreform Hamburg“ locker angeschlossen haben. Mit einer „informativen und auch emotionalisierenden“ Kampagne für die Reform hat die Schulbehörde gürtlerbachmann Werbung beauftragt. Die Initiative „Chance für alle“ setzt bei ihrer „interdisziplinären Kampagne“ für die Primarschule seit Ende März auf die Agentur achtung!.
Praktiker und Theoretiker sind sich einig, dass bei aller Bündelung der Kräfte tunlichst der Eindruck vermieden werden sollte, hier stehe der Bürger einer gewohnten Übermacht auf Regierungs-, Partei-, Behörden- und Verbandssesseln gegenüber. Der Volksentscheid könnte sonst, besonders bei den weniger informierten Wählern, leicht von einer eher gefühlsmotivierten Notbremsung in Sachen Bildung zu einer Generalabrechnung mit zwei Jahren Schwarz-Grün in Hamburg werden.
Man muss kein Prophet sein, um die fatalen Folgen einer solchen Abrechnung für die kostspielige Schulreform – die Schätzungen schwanken zwischen 200 und 600 Millionen Euro – zu erahnen: Das Milliardendebakel um die HSH Nordbank oder die Kostenexplosion um das Prestigeprojekt Elbphilharmonie prägen die politische Atmosphäre weiter mit. Die hoch verschuldete Stadt ist so klamm, dass sie sich fehlendes Geld für die Kindergärten durch eine deutliche Erhöhung der Kita-Gebühren von den Eltern holen muss. Nur, warum ausgerechnet jetzt? Auch Reformbefürworter wie Hamburgs früherer SPD-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi stöhnen über den „ausgesprochen unglücklichen“ Zeitpunkt, der einen schier unbegreiflichen Mangel an taktischem Gespür zeige. Wenig hilfreich dürften auch Äußerungen von CDU-Finanzsenator Carsten Frigge sein: Wäre die Reform als zentraler Teil des Koalitionsvertrages nicht unverhandelbar, so hätte er heute seine Zweifel, ob man die Reform angesichts der aktuellen Finanzlage noch einmal starten würde.
Nach einer vom „Hamburger Abendblatt“ in Auftrag gegebenen Psephos-Umfrage von Ende April ist die Zahl der Reformgegner mit 30 Prozent ebenso hoch wie die Zahl derer, die an dem Volksentscheid nicht teilnehmen wollen. 25 Prozent äußerten sich für die Reform, und 15 Prozent waren unentschieden oder machten keine Angaben. Das deutet auf einen knappen Ausgang am 18. Juli hin. Sorge dürfte dies besonders der CDU machen, denn gerade einmal 17 Prozent ihrer Wähler sind für die Primarschule, doppelt so viele (34 Prozent) dagegen, fast ebenso vielen ist es egal. Bei SPD und Linken ist das Stimmungsbild recht ausgeglichen. Nur bei GAL-Wählern lag der Anteil der Reformbefürworter über der 50-Prozentmarke. Unabhängig von parteipolitischen Sympathien war in der Altersgruppe der 35- bis 49-Jährigen, also einem Großteil der Elterngeneration schulpflichtiger Kinder, die Zustimmung für die Schulreform mit 17 Prozent am geringsten, die Ablehnung mit 38 Prozent am höchsten.

Maschinerien angeworfen
Vor dieser Gemengelage wird nachvollziehbar, warum manche PR-Agentur der Stadt mit Zurückhaltung auf die Ausschreibung der Schulbehörde reagierte. Hinter vorgehaltener Hand wurde kein Hehl daraus gemacht, dass sich angesichts der starken Polarisierung dabei wohl wenig gewinnen lasse. Für eine offen angelegte Kommunikation, die den Bürger in Entscheidungsprozesse einbindet, sei es zu spät. Jetzt könne es nur noch um persuasive Kampagnenarbeit gehen – und das unter schwierigen Rahmenbedingungen, begleitet von einem inzwischen vielstimmigen Chor der Reformbefürworter.
Die Kampagne des Hamburger Senats startete Mitte Mai. Im Mittelpunkt stehen Plakate, auf denen mehr oder weniger Prominente mit ihren Einschulungsfotos auftauchen. Argumente und Informationen für die Reform finden sich auf der Webseite www.mitgeben.hamburg.de. Wenig über ihre Kampagnenarbeit war von der Pro-Reform-Initiative „Chance für alle“ zu erfahren. Deren Sprecher Peter Zolling hielt sich bezüglich der Instrumente und Strategien der PR-Kampagne noch bedeckt. Ende April habe es eine erfolgreiche Auftaktveranstaltung des Vereins gegeben, ab Mitte Mai sollte es dann mit Podiumsdiskussionen, Infoständen, Plakaten und Presseterminen in die heißere Phase gehen. Die Arbeit der Agentur achtung! hat dem Verein bislang einen neuen Namen beschert: Aus „Chance für alle – Hamburger Allianz für Bildung“ wurde „Chance für alle – Die Schulverbesserer“. Außerdem gibt es bereits eine neue Internetseite. Zolling geht davon aus, dass die Reformbefürworter das Plebiszit für sich entscheiden werden. Der Ex-„Spiegel“-Redakteur begründet seinen Optimismus mit dem hohen Anteil an Wählern, die noch unentschlossen seien.
Auch die Parteien, Gewerkschaften und Verbände haben ihre Maschinerien für die Reform in Gang gesetzt, hauptsächlich mit eigenen Veranstaltungen und mit der Teilnahme an Expertenrunden, wie sie etwa das Budni Bildungs-Forum 2010 durchführt. Die SPD hat 40 Info-Veranstaltungen zur Primarschule geplant. Ihr Dilemma: Mit eigenem Geld wirbt sie für den Erfolg des politischen Kontrahenten. Trotz der ungewöhnlichen All-Parteienkoali- tion in der Bürgerschaft geht die Einigkeit nicht so weit, gemeinsam zu plakatieren. Niemand will sein Parteien-Logo neben dem der Linken sehen, die 60.000 Euro für die Kampagne locker machen.
Bürgermeister von Beust wird indes wie gewohnt für die CDU einen Brief an die Wähler schreiben, aus Kostengründen aber wohl nur an die Älteren. Sie sind als lohnende Zielgruppe ausgemacht worden: Denn nach der Psephos-Umfrage wollten 52 Prozent der Über-65-Jährigen an dem Wahlgang in den Sommerferien nicht teilnehmen – vermutlich, weil sie sich für schulische Belange nicht mehr zuständig fühlen. So gerüstet wollen die Reformbefürworter verhindern, dass ihre Gegenspieler am 18. Juli ein Mehrheitsvotum von mindestens 247.000 Wählerstimmen erreichen, um die Reform zu kippen.
Die Reformgegner von „Wir wollen lernen“ sehen sich nach Worten ihres Sprechers Scheuerl angesichts des großen Zuspruchs beim Volksbegehren und nach den Umfrageergebnissen in der Favoritenrolle für den Volksentscheid. Der Zuspruch aus allen gesellschaftlichen und politischen Gruppen habe aber auch zu einer Versachlichung der Berichterstattung der Medien beigetragen, konstatiert der Anwalt, der sich und seine Elterninitiative im Vorfeld des Volksbegehrens noch öfter „dem unsinnigen Eliten-Vorwurf“ gegenüber sah. Scheuerl hat keine PR-Agentur für die Kampagnenarbeit eingeschaltet: „Dafür fehlt uns das Geld.“ Man sammele überwiegend kleinere Spenden und werde bis zum Volksentscheid bestenfalls 20 bis 25 Prozent des Budgets der Gegenseite zur Verfügung haben. Auf professionelle Beratung müsse man aber dennoch nicht verzichten, denn, so Scheuerl, etliche Initiativen-Mitglieder seien als Kommunikationsspezialisten beruflich erfolgreich und brächten ihr Know-how ein. Ihre wichtigste Botschaft: Immer wieder draußen mit den Menschen reden.
Die Entwicklung hin zur Professionalisierung der Arbeit von Initiativen ist nicht neu. Forscher Mittendorf sieht den Trend der Einbindung von Kommunikationsexperten seit einiger Zeit bestätigt. Empirische Studien dazu gebe es aber noch nicht. Allerdings steht der Trend laut Mittendorf auch in „direktem Zusammenhang mit der Urbanisierung und der Größe der Initiativen“. Auffällig sei auch, dass besonders oft bei der Initiativen-Abwehr auf PR-Agenturen gesetzt werde. Grundsätzlich sieht Mittendorf in der Entwicklung kein Problem, solange die Professionalisierung nicht zulasten der Transparenz gehe und Unterschiede der Finanzressourcen nicht zu Disparitäten führten. Der Forscher geht davon aus, dass die Zahl direktdemokratischer Initiativen zunehmen wird: Immer mehr Menschen seien nicht bereit, dem Treiben ihrer repräsentativdemokratisch gewählten Volksvertreter zwischen den Wahlen hilflos zuzusehen.

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