1976 trank hierzulande im Schnitt noch jeder 150 Liter Bier im Jahr. Doch seitdem lässt der Bierdurst nach. Zusätzlich vermiesen ruinöse Preiskämpfe den Erzeugern das Geschäft. Mit dem Luxussortiment Braufactum zieht jetzt der Oetker-Konzern die Konsequenzen – und will das Bier neu erfinden. Von Harald Schiller
Michael Graeter, der berühmt-berüchtigte Münchner Society-Reporter, schlägt Alarm: „Oetker greift an!“ beunruhigte er seine bayrischen Bierfreunde und berichtete in seinem Blog von einer neuen Front auf dem ohnehin mit härtesten Bandagen umkämpften Biermarkt. Denn ausgerechnet zur besten Oktoberfestzeit stellte der Pudding-Konzern in der Isar-Metropole Braufactum vor: „Vergessen Sie, was Sie bislang über Bier dachten und wussten!“ lautet das Braufactum-Credo. Unter dem Kunstbegriff Braufactum wird seit dem vergangenen Herbst in einem Online-Shop, in einem Dutzend Geschäften und einigen Restaurants eine hochpreisige Kollektion deutscher und internationaler Bierspezialitäten angeboten, die sich um die Trinkgewohnheiten von Traditionalisten nicht kümmert. Dazu gehören acht in Deutschland gebraute Eigenkompositionen und 24 importierte Bierspezialitäten aus Italien, den USA, England, Schottland und Belgien – gemahlene Orangenschalen und Johannisbeeren inklusive.
Für die 0,5-Liter-Flasche „Xyauyù Gold“ des italienischen Starbrauers Teo Masso werden 29,99 Euro aufgerufen. „Dafür bekomme ich 120 Pullen Oettinger!“ warf sich ein „Bild“-Reporter prompt seinen Lesern an den Hals. Doch ähnlich wie in den USA, wo bereits in den 1980 er-Jahren zahllose Mikrobrauereien durch hochwertige Biere das Image des Gerstensafts aufgewertet haben, existiert auch im klassischen Weinland Italien längst eine vitale Brauereiszene, die mit originellen Spezialbieren eine wachsende Zahl experimentierfreudiger Getränkeliebhaber und Feinschmecker begeistert.
„Premium“ genügt nicht mehr
Das Regionale liegt auch zwischen Flensburg und Garmisch im Trend. Viele kleine Brauereien bedienen die Sehnsucht nach dem Echten und Authentischen. Sie setzen auf Bierspezialitäten statt auf Massenproduktion und haben damit Erfolg. Im jüngsten Biertest bei „Öko-Test“ lagen fünf regionale Brauereien an der Spitze der Geschmackswertung. Immer mehr Feinschmecker schätzen dieses besondere und hochwertige Aroma. Biere wie „Barrique Klosterbier“ aus der fränkischen Klosterbrauerei Weissen-ohe versprechen exklusive „Geschmackserlebnisse.“
Die Konsumenten in diesem Markt haben einen gemeinsamen Feind: das aus der Werbung bekannte „Fernsehpils“. Die auf neue Geschmackserlebnisse neugierige Klientel wünscht sich auch Marc Rausch-mann, Geschäftsführer von Braufactum: „Wir wollen das Produkt Bier wieder spannend machen“, erläutert er, „unsere Biere müssen erklärt und probiert werden. An viele Aromen müssen die deutschen Biertrinker erst herangeführt werden.“ Rausch-mann ist studierter Braumeister und will mit Braufactum in spätestens vier Jahren schwarze Zahlen schreiben. Mit seinem Team, so will es der Braufactum-Gründungsmythos, ist er monatelang um die Welt geflogen, auf der Suche nach außergewöhnlichen Brauern und ihren Bieren. Gefunden haben sie Menschen wie Garrett Oliver. Der preisgekrönte Braumeister der New Yorker Brooklyn Brewery erzeugt für Sterneköche Unikate, seine Vorträge über die Braukunst gleichen Predigten.
Doch Rauschmann kennt die höchste Hürde des deutschen Biermarkts: „Der deutsche Biertrinker glaubt, alles über Bier zu wissen!“ Das Wirtschaftsmagazin „brand eins“ vermeldet: „Nirgendwo auf der Welt ist Bier so heilig wie in Deutschland!“ Deshalb setzt Rauschmann auf Verkostungen, die Überzeugungsarbeit am Point of Sale und die Zusammenarbeit mit kreativen Köchen, „es geht um die Vielfalt. Und es geht um gute Geschichten. Denn wer an Wein denkt, denkt an den Winzer, wer an Bier denkt, denkt an Edelstahl. Das wollen wir ändern!“
Der Warsteiner-Brauerei war es in den 1980er-Jahren mit Millionenaufwand gelungen, Bier zu „entproletarisieren“. Aus dem Alltagsgetränk wurde ein nationales Premium-Produkt. Bier wird seitdem auch zu Theaterpremieren kredenzt. Warsteiner wurde erfolgreich als „Königin unter den Bieren“ positioniert, bis ständige Managementquerelen die Familiendynastie der Cramers lähmten und sich der Premiumerfinder und Eigentümer der Warsteiner Gruppe Albert Cramer mit der Yellowpress herumschlagen musste. Jetzt ist es Cramers Konkurrent, der sich an die nächste Stufe der Image-Veredelung des Gerstensafts herantraut.
Massengeschäft ohne Perspektive
Hinter Braufactum steht die Radeberger Gruppe. Die Tochter des Oetker-Konzerns ist deutscher Biermarktführer und braut bundesweit an 14 Standorten mehr als 40 Marken, darunter Radeberger, Jever, Schöfferhofer und Sternburg. „Wir leben Deutsche Bierkultur!“ ist das Leitbild des Unternehmens – da sind Konflikte mit Braufactum programmiert. Im gesamten Braufactum-Auftritt weist nichts auf die Verbindung zu Radeberger hin – sicher kein Zufall. Wer das Mitarbeiter- und Kundenmagazin der Radeberger Gruppe „Deutsche Bierkultur“ liest, kann zwischen den Zeilen erfahren, wie knifflig die Gratwanderung zwischen den etablierten Marken und dem neuen hochpreisigen Braufactum-Angebot für die gesamte Gruppe ist: „Die feine Bierkultur, die unsere deutsche Bierkultur so wunderbar ergänzt. Nicht als ,bessere’ Biere oder als Konkurrenz zu unseren stolzen Marken. Sondern einfach nur anders, für besondere Genussmomente.“
Radeberger engagiert sich im Hochpreissegment, weil den deutschen Brauern im Massengeschäft die Perspektiven ausgehen: „Der sich weiter verschärfende und inzwischen selbstzerstörerische Preisverfall insbesondere von Premiumbieren im Handel ist angesichts des Ausmaßes eine ganz neue Herausforderung. Trotz der Niedrigpreise wurde nicht mehr Bier getrunken, sondern wurden nur langfristig und teuer aufgebaute Markenwerte leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Dieses verantwortungslose Handeln wird die Marktkonsolidierung auf Brauereien- und auf Großhandelsseite auf selbstzerstörerische Art und Weise vorantreiben“, warnte 2010 Radeberger-Chef Albert Christmann.
Dass der markentreue Kunde ausstirbt, liegt wohl auch daran, dass es in Deutschland schlicht kein „schlechtes“ Bier gibt. Dass deutsches Bier „sehr gut“ ist, befanden jüngst auch die Prüfer von „Öko-Test“: 46 Marken probierten die Tester, 44 erhielten die Bestnote, zwei Biere bekamen eine Zwei plus. Der deutsche Biermarkt ist skandalfrei – und langweilig. Das in Deutschland meistgekaufte Bier der Billigmarke Oettinger verzichtet fast komplett auf einen Werbeauftritt.
Klassische Werbung reicht nicht mehr aus
Ist die Zeit reif für neue Superpremium-Biere wie Braufactum? „Natürlich steht gutes Bier auf Augenhöhe mit Wein,“ gibt sich Marc-Oliver Huhnholz, Sprecher des Deutschen Brauer-Bundes, selbstbewusst. „nach dem Imageschub der achtziger Jahre kommt jetzt das Bier 2.0. Aber Bier soll auch ein Volksgetränk bleiben, das sich jeder leisten kann.“ Erklärt das die Qualität deutscher Bierwerbung? „Abgestanden und langweilig!“ stöhnen Werbeprofis. „Wir haben erkannt, dass man junge Leute nicht mehr über das deutsche Reinheitsgebot oder die Klarheit des Brauwassers erreichen kann. Die Jungen wollen in ihren Erlebniswelten abgeholt werden. Will eine Marke überzeugen, muss sie neue Bilder erzeugen und spannende Geschichten erzählen.“
Immerhin gelang Beck & Co mit der neuen Sorte Beck’s Gold 2002 ein Coup: Es ist in hellen Flaschen abgefüllt, schmeckt milder als traditionelle Pilssorten und avancierte rasch zum Liebling der Frauen und der jungen Trendsetter. Doch die Margen für Massenbiere werden immer kleiner, und der Bierkonsum ist rückläufig. 2009 sank der Pro-Kopf-Verbrauch auf 110 Liter, 1976 lag er noch bei 150 Litern. „Die Bevölkerung wird immer älter“, sagt Verbandssprecher Huhnholz, „die Arbeitswelt hat sich verändert, und auch das Rauchverbot in Gaststätten und die Wirtschaftskrise haben auf den Konsum gedrückt. Der Konsum wird weiterhin mit jährlich ein bis zwei Prozent abnehmen und sich bei 100 Liter pro Kopf und Jahr stabilisieren“, erwartet er.
Sandra Strobel, die seit 2009 für die Münchner PR-Agentur Zweiblick im Auftrag der Freien Brauer spricht, sieht nur einen Ausweg: „Wir müssen die Einstellung der Verbraucher verändern. Bier muss die Wertigkeit erhalten, die es verdient!“ Strobel ist eine von weltweit 350 zertifizierten Biersommeliers. Die Ökotrophologin setzt auch auf das Netz und soziale Medien: „Wir werden die Schlacht um den Verbraucher mit klassischer Werbung nicht gewinnen. Es geht darum, die Experimentierfreude, die Lust am Genuss und den Meinungsaustausch über Bier zu fördern.“ Zusammen mit dem amtierenden Sommelier-Weltmeister Karl Schiffner testet sie als Mitglied der „Bier-Sensoriker“ Biere und gibt monatlich in Internetforen Empfehlungen. „Es gibt immer mehr Foren, die sich qualifiziert mit guten Bieren beschäftigen.“ Ihre Hoffnung: „Dass es in guten Restaurants neben der Weinkarte bald auch detaillierte Bierkarten gibt!“