Kaum ein Verband in Deutschland ist politisch so umstritten wie der Bund der Vertriebenen (BdV). Doch eigenwillige Geschichtsdeutung und kalkulierte Provokationen der Präsidentin treffen den Nerv der Basis – und großer Teile der Bevölkerung. Auch wenn der BdV nicht als Experte des internationalen Völkerrechts respektiert wird: Zustimmung und Zulauf selbst in jüngeren Generationen scheinen ungebrochen. Von Bijan Peymani
Der seit diesem Frühjahr schwelende Burgfrieden schien ihr unheimlich zu werden: Nachdem Erika Steinbach ihren Streit mit dem Bundeskabinett um einen Platz im Beirat der staatlichen Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung beendet hatte, war es für die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) Zeit, für die Ihren ein neues, unüberhörbares Signal zu setzen. Im Interview mit der ARD bescheinigte Steinbach Mitte September dem Deutschland-Beauftragten der polnischen Regierung, Wladyslaw Bartoszewski, „ohne Wenn und Aber“ einen „schlechten Charakter“.
Erst wenige Tage zuvor hatte die polarisierende BdV-Präsidentin und langjährige CDU-Bundestagsabgeordnete bei einer Fraktionsklausur der Union für einen Eklat gesorgt. Sie könne es „leider nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobil gemacht hat“. Während Steinbach nach heftiger Kritik an dieser Äußerung parteipolitische Konsequenzen zog und künftig nicht mehr für den CDU-Bundesvorstand kandidieren will, hatte sie für ihre Bartoszewski-Bemerkung später lediglich Bedauern übrig. Doch ihre Botschaften waren angekommen, die BdV-Basis folgt ihr treu.
Beleg dafür war Steinbachs fulminantes Ergebnis auf der Bundesversammlung des BdV Ende Oktober: Mit 92,5 Prozent aller Stimmen wurde die 67-Jährige in ihrem Amt bestätigt, das sie bereits seit 1998 ausfüllt – und für das es bis heute im Verband offenbar keine personelle Alternative gibt. Warum auch? Die gebürtige Westpreußin erscheint der vor gut einem halben Jahrhundert gegründeten Dachorganisation der deutschen Vertriebenenverbände als Glücksfall. Ihre Rhetorik, aus Sicht ihrer Kritiker bisweilen außerhalb des „demokratischen Verfassungsbogens“, verfängt.
„Erika Steinbach hat ihrem Verband einen politischen Einfluss gesichert, der überproportional zu seiner tatsächlichen Bedeutung ist“, analysiert Marco Althaus, Gastprofessor für Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Wildau. Sie habe den BdV „durchaus modern und strategisch geführt, vielfach auch nach Medienlogik geschickt. Mit Kantigkeit, klarer Rede und scheinbarer Unverrückbarkeit hat sie die ,Marke Steinbach’ aufgebaut und mit dem BdV als Machtbasis verknüpft. Das ist aus PR-Sicht eine beachtenswerte Leistung, egal ob einem das passt oder nicht“, sagt der Public-Affairs-Experte.
Der Verband und das Völkerrecht
Aus Sicht des Historikers Hans Henning Hahn ist die Institution „politisch und institutionell in den Strukturen dieses Staates fest verankert“; folglich habe sie „zweifellos gewichtigen Anteil“ am Bild, das die Bundesrepublik internationalen Betrachtern biete. Der BdV und seine Landsmannschaften bestimmten zwar nicht die deutsche Außenpolitik mit, aber es handele sich um staatlich geförderte Organisationen. Als Konsequenz, sagt Hahn, würden „deren Äußerungen im Ausland nicht als Aussagen eines privaten Vereins wahrgenommen“.
Auch wenn der Wandel des Verbands zum Experten des internationalen Völkerrechts misslang, so schaffte es der BdV, sich hierzulande klar zu posi-tionieren. „Mit der Mehrheit der deutschen Völkerrechtler bestand stets ein weitgehender Konsens; also stand auch die Berufung auf das Völkerrecht immer im Vordergrund der Argumentation“, so Hahn. Dass die internationale Völkerrechtswissenschaft im Kontext der Vertreibung von jeher andere Auffassungen vertritt, sei indes „bisher in Deutschland verdrängt, verschwiegen oder als Unsinn abgetan“ worden.
Transparenz? Fehlanzeige
Zwar unternehmen Steinbach und ihr Gefolge alles, um das populäre Bild vom „Verband der Verbitterten“ zu korrigieren, doch die internationale Wertschätzung und das diplomatische Gewicht des BdV scheinen eher nachrangig. Das klassische Ziel des Verbands sei ein nationales politisches Mandat für eine Interessengruppe, sagt der Politikwissenschaftler Althaus. Traditionen, Ideologie, Medien- und Mitgliederlogik wären hohe Hürden für ein derart zentrales Umsteuern des Verbändeverbands, „und die meisten Mitglieder haben vermutlich gar kein Interesse an abgehobener Expertenarbeit“.
Nach dem Eindruck vieler Beobachter mag Präsidentin Steinbach mit ihren öffentlichen Auftritten den Bogen regelmäßig überspannen, mancher erkennt Abnutzungserscheinungen. Gleichwohl bildet die Kommunikation der Verbandszentrale nur die Spitze des Eisbergs. In den Ländern und lokal wird durch und über den BdV ganz anders kommuniziert. Trotzdem wird er im Rahmen des Vereinswesens in den Lokal- und Regionalmedien der Republik auch wahrgenommen. „Und zwar längst nicht so kontrovers wie auf der bundespolitischen Bühne“, beobachtet Althaus.
Historiker Hahn ist denn auch überzeugt, dass es dem Verband vor allem um eine allgemeine Akzeptanz der eigenen Geschichtsbilder und Forderungen geht. Hahn nimmt „nicht an, dass die Vertriebenenpolitiker Streit suchen und um Provokationen bemüht sind, sondern nur ihre eigenen Meinungen vertreten, die andere Deutsche, Polen oder Tschechen als Provokation empfinden. Man müsste in der deutschen Öffentlichkeit endlich mit den BdV-Angehörigen diskutieren, damit Umstrittenes geklärt werden kann“.
Der Verband selbst will sich auf Anfrage weder zur Person seiner Vorsitzenden noch zu seiner Kommunikationsstrategie äußern. Überhaupt fällt der BdV vor allem durch mangelnde Offenheit und Transparenz auf. So gibt es keine belastbaren Daten zum Bestand des Verbands. Sie variieren zwischen 100.000 zahlenden Mitgliedern, von denen der Deutschlandfunk ausgeht, und rund zwei Millionen, wie sie der Bund der Vertriebenen selbst beziffert. Eine jüngst veröffentlichte Studie des Berliner Maecenata-Instituts weist zudem staatliche Fördergelder von gut 920.000 Euro im Jahr aus.
Doch der BdV lege nirgends dar, wofür die Summe verwendet würden, kritisiert die Studie. Schon zweifeln deren Autoren, die Politikwissenschaftler Eva Maria Hinterhuber und Rupert Graf Strachwitz, die Legitimität des Sozialverbandes an. Und halten ihn zugleich für überholt: Es könne konstatiert werden, dass die Geflohenen und Vertriebenen „ihren Frieden mit den geänderten Verhältnissen gemacht haben“. Die Integrationsaufgabe sei „vollumfänglich gelöst“. Mitglieder hätten heute kein persönliches Flucht- oder Vertreibungsschicksal mehr.
Passt der Verband noch in die Zeit?
Tatsächlich erweist sich für den BdV als ein Problem, dass die Erlebnisgeneration allmählich ausstirbt – und damit das Interesse an der Aufarbeitung der und Erinnerung an die Millionen persönlichen Schicksale. Doch die heimliche Hoffnung seiner Gegner, der Verband werde sich absehbar und quasi biologisch von selbst erledigen, erfüllt sich nicht. Im Gegenteil: Er profitiert davon, dass sich seine Mitglieder bis ins hohe Alter ehrenamtlich engagieren. Und er kann sogar Sympathisanten mobilisieren, die nie dieser Schicksalsgemeinschaft angehörten.
Althaus hält es im Hinblick auf öffentliche Kommunikation und Mitgliedergewinnung für hilfreich, dass der BdV trotz seiner kantigen Rhetorik lediglich diffuse politische Ziele verfolge. Er biete „eine Projektionsfläche und ein Gemeinschaftsgefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Um Mehrheitsfähigkeit geht es dem Verband nicht, muss es ihm auch nicht“. Solange diese Mechanik funktioniere, sei die Organisation „politisch relevant und eine Machtressource“. Eine, die im Zuge der Wiedervereinigung zusätzlichen Schub und frisches Blut erhalten hat.
Denn in der früheren DDR war es vor 1990 tabu, Flucht und Vertreibung zu thematisieren. Der BdV bot vielen Betroffenen im Osten der wiedervereinigten Republik in der Folge eine geistige Heimat und verlieh ihrem Anliegen eine starke Stimme. Hinzu kommt eine verstärkte Nachwuchsarbeit, etwa der Arbeitsgemeinschaft Junge Generation im BdV-Landesverband Nordrhein-Westfalen. Sie wirbt mit „gesonderten Veranstaltungen für die junge und mittlere Generation“ ebenso um die Klientel wie mit einer Studienfahrt nach Ostpreußen. Doch die Verjüngung des Verbands bleibt relativ.
Keine Distanz zu rechten Unterstützern
Die „klassischen“ Heimatvertriebenen lassen sich altersbedingt kaum noch rekrutieren. Die Konzentration auf Spätaussiedler hat Grenzen. Der Zugang zu Zuwanderern aus Russland und Osteuropa wird in Zukunft deutlich schwieriger werden; die kulturelle Distanz wird irgendwann unüberwindbar. Daher urteilt Althaus: „Der BdV kann seine natürlichen Mitgliederverluste nie mehr ausgleichen. Das wird noch dramatisch werden.“ Doch es gebe Potenzial „weit jenseits der klassischen Klientel“. In welchem Spektrum dies unter anderem zu verorten ist, machen Sympathiebekundungen der jüngst in der NPD aufgegangenen DVU und der Republikaner deutlich. Öffentlich distanziert hat sich der BdV von derlei Unterstützern nicht. Vielmehr bedient er das rechte Lager (unfreiwillig?) noch mit seiner Losung: Es geht dem Verband nicht um Heimat, sondern um das „Recht auf Heimat“. Zwar hat Steinbach die Aufarbeitung der NS-belasteten Funktionäre der BdV-Frühzeit angeschoben, doch Konkretes hat das Projekt bisher nicht zutage gefördert.